Schwerkranke und im Sterben liegende Angehörige zu versorgen, gibt vielen Menschen ein Gefühl der Hilflosigkeit und Angst. Speziell darauf ausgerichtete „Letzte Hilfe Kurse" helfen, Unsicherheiten abzubauen und geben wichtige Anleitungen an die Hand.
Es ist kühl an diesem ganz normalen Montagmorgen um 9 Uhr, die Sonne scheint, die ersten Blätter fallen von den Bäumen, und noch immer quält sich der dichte Berufsverkehr über die Berliner Stadtautobahn. Das Geräusch pulsierenden Lebens ist noch im vierten Stock eines schmucklosen Gebäudes unweit des Heidelberger Platzes zu hören, wo der eingetragene Verein Home Care Berlin seinen Sitz hat. In einem der Räume soll heute ein „Letzte Hilfe Kurs" für Erwachsene stattfinden. Das klingt zunächst ein wenig merkwürdig, denn was soll das sein und für wen ist sie bestimmt – die letzte Hilfe?
Ein Blick in den Seminarraum, in dem sechs ältere Frauen und einige Männer in einem offenen Stuhlkreis sitzen, lässt erahnen, worum es gehen könnte: Neben der Leinwand für eine Power-Point-Präsentation hängen ausladende Papierbögen an den Wänden, auf denen handschriftlich Fragen und Merksätze zum Thema Tod und Sterbebegleitung festgehalten sind. Auf dem Boden stehen eine Urne, Grabschmuck und ein übergroßes Stundenglas; und auf einem langen, schmalen Tisch liegen Keil- und Stützkissen, Massageöle, Zahnbürsten, ein Piccolo-Sekt und eine leere Pralinenschachtel. Ausliegende Flyer am Eingang zum Seminarraum beschreiben das Thema des ganztägigen Kurses kurz und knapp: das Umsorgen von schwerkranken und sterbenden Menschen am Lebensende.
Dass sie sich – wie die meisten Menschen hierzulande auch – am Sterbebett eines Angehörigen oder Freundes hilflos und überfordert fühlen könnten, das ahnen die Kursbesucher, deshalb sind sie hier. Das Sterben und den Tod, das kennen sie nur vom Hörensagen, das bleibt den meisten fremd, denn über die allerletzte Phase unseres Lebens spannt sich noch immer ein Mantel aus Unwissen, Schweigen, Angst und Hilflosigkeit. Die letzten Wochen, Tage und Stunden spielen sich meist an anderen Orten ab: in Krankenhäusern, Pflegeheimen, Palliativstationen und Hospizen. Doch man hat auch schon gelesen von unwürdigen Zuständen in manchen Heimen, gehört vom Mangel an qualifizierten Pflegekräften, vielleicht selbst erfahren, wie kühl und routiniert es im Krankenhaus zugehen kann. Deshalb möchten immer mehr Menschen den Tod in ihrer vertrauten Umgebung, zu Hause, im Kreise ihrer Liebsten erwarten. Aber ein klärendes Gespräch, es kommt nur schwer in Gang. Falle ich meinen Kindern nicht unnötig zur Last? So mag sich der Todgeweihte fragen. Wie kann ich meinem Vater einen letzten Dienst erweisen, was bekommt er noch mit, wie erhalte ich auch in der Pflege seine Würde?
Die Idee zur „Letzten Hilfe" stammt von dem dänischen Arzt Dr. Claus Bollig, dem der Beistand am Lebensende genauso wichtig war wie Leben zu retten – und beide Aufgaben müssen gelernt und vermittelt werden. In Zusammenarbeit mit Palliativ- und Hospizeinrichtungen werden solche Kurse in Deutschland seit 2015 und in 19 anderen Ländern von geschulten und zertifizierten Referenten angeboten. Ulla Rose, Geschäftsführerin von Home Care Berlin, ist eine von ihnen.
Mit 18 Ausbildung zur Krankenpflegerin
Es wird geduzt untereinander, aber auch ohne diese persönliche, vertrauensbildende Ansprache spürt man bei Ulla auf Anhieb, dass all ihre Hinweise und Ratschläge im Umgang mit Sterbenden auf langjährigen, eigenen Erfahrungen beruhen. Dass sie Krankenschwester werden würde, stand für sie schon in früher Jugend fest, etwas anderes kam für sie nie infrage. Als älteste Tochter eines Busfahrers und einer Hausfrau kam sie in einem kleinen Dorf im Westfälischen zur Welt, von Geburt an mit einem Nierenleiden. Als sie 16 Jahre alt war, hatte sie deshalb bereits 27-mal im Krankenhaus behandelt werden müssen. Zumeist in den Ferien, denn auf eine gute Schulausbildung – zuletzt in einem Internat unter Aufsicht katholischer Ordensschwestern – legten die Eltern wert, Nierenleiden hin oder her.
Nach dem Schulabschluss beginnt sie mit 18 Jahren ihre Krankenpfleger-Ausbildung und qualifiziert sich nach Stations- und Pflegedienstleitung zur Lehrerin für Pflegeberufe. Seit 1999 lebt und arbeitet sie nun in Berlin. Dass sie sich immer stärker auf das Fachgebiet der Palliative Care konzentrierte, hat auch damit zu tun, dass Ulla schon als Jugendliche ehrenamtlich im Seniorenheim arbeitete. Für sie war es normal, sich um Sterbende zu kümmern, so wie es früher auch in den Drei-Generationen-Familien üblich war. Sie hat aber auch mit angesehen, wie noch in den 1970er-Jahren Sterbende in einem Krankenhaus hinter einen Plastikvorhang ins grün gekachelte Bad geschoben wurden. Seitdem engagiert sie sich mit Herzblut und auf vielfältige Weise für die Verwirklichung eines Grundsatzes: Es geht bis zum letzten Atemzug um ein Leben in Würde und die helfende Begleitung eines Sterbenden ist die letzte Chance, etwas für ihn zu tun. Was hier versäumt wird, es ist versäumt.
Die jüngsten Teilnehmer an „Letzte Hilfe Kursen" waren knapp 18, die Älteste 87 Jahre alt, und es geht bei allen um die gleichen Kernfragen: Wie bereite ich mich selbst auf meine letzten Tage vor? Wo bekomme ich Unterstützung? Was kann ich konkret am Lager des Sterbenden tun, um seine Situation zu erleichtern? Dass Sterben ein Teil des Lebens ist und zum ewigen Kreislauf der Natur gehört, jeder wird es annehmen müssen. Dass Vorsorge und Regelungen im Rahmen von Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten und Testamenten nötig sind, das ist einzusehen, und im Rahmen dieses Kurses gibt Ulla Rose zahlreiche Hinweise und Empfehlungen, wie solch schriftliche Festlegungen korrekt und rechtsverbindlich abzufassen sind. Und keine Sorge, wenn in der Kürze der Zeit nicht alles auf Anhieb verstanden wird. Auch in diesen Fragen steht Ulla Rose für eine persönliche Beratung und gemeinsame Durchsicht notwendiger Unterlagen zur Verfügung.
Manchmal ein Gefühl der Machtlosigkeit am Bett eines Sterbenden
Sehr persönlich, geradezu intim und berührend wird es aber, wenn es ganz konkret um die Frage geht: Wie kann ich die Leiden des Sterbenden lindern? Ulla Rose, nicht in Grau oder Schwarz, sondern in einem lebensfrohen Rot gekleidet, geht es ganz praktisch an. Sie gibt Ratschläge statt ein starres Regelwerk zu formulieren: „Verwendet bei der Mundpflege besser eine Kinderzahnbürste, die leichter zu handhaben und nicht so sperrig ist. Stützkissen für eine angenehme Lagerung sollten unter die Matratze, um Druckstellen zu vermeiden. Nachlassender Appetit und Trinkverweigerung sind normal, zwingt bitte niemanden dazu. Wenn der Mund austrocknet, nehmt wassergetränkte Tupfer und befeuchtet vorsichtig den Innenraum. Oder ihr versucht es einmal mit ein paar Perlen der prickelnden Ahoi-Brause auf der Zunge, um den Speichelfluss anzuregen."
Und in jedem ihrer praktischen Ratschläge steckt stets die gleiche Ermutigung: „Traut Euch! Nur, wenn ihr etwas vorsichtig tut und ausprobiert, werdet ihr spüren, was hilft und Erleichterung verschafft." Ulla Rose hat die Fähigkeit, das Selbstvertrauen der anfänglich verunsicherten Kursteilnehmer zu stärken. Und es wird gelacht, wenn kreative Ideen zur Sprache kommen. Für einen Rotweinliebhaber, der im Sterben lag und nicht mehr schlucken konnte, ließ sie sich etwas Besonderes einfallen. In die Mulden einer leeren Toffifee-Schachtel füllte sie einen sehr kleinen Schluck Wein, vermischt mit Mineralwasser oder Prosecco, und ließ dies im Eisfach gefrieren. Hin und wieder schob sie dann ein solches Kügelchen dem Sterbenden in den Mund und schenkte ihm so ein lang vermisstes Geschmackserlebnis. Keine Enthaltsamkeit in den letzten Stunden, bitte.
Aber auch Ulla fühlt sich manchmal am Bett eines Sterbenden machtlos. Wie sollte es anders sein? Denn natürlich gibt es Situationen, wo die letzte Hilfe den Sterbenden nicht mehr erreichen kann. Sie selbst war privat nicht auf Rosen gebettet, verlor zu früh die Mutter und den Vater ihres 19-jährigen Sohnes. Das alles aber mindert nicht ihr Engagement und ihr Selbstvertrauen. Ulla bezeichnet sich selbst als religiös, dem christlichen Glauben verbunden, und dadurch fühlt sie sich gestärkt
und aufgehoben.
Zum Ende des Kurses wird thematisiert, wie Abschied vom Verstorbenen genommen werden kann. Es geht um verschiedene Rituale, um das Aushalten und Lindern der Trauer in der Gemeinschaft der Familie, um die offene und sensible Einbeziehung von Kindern und Enkeln, um vielfältige Bestattungsmöglichkeiten, über die ein Bestatter fachkundig referiert. Jeder bekommt zum Schluss eine Teilnahmebestätigung, eine nette, ermutigende Geste, dieses schwierige Thema nicht wieder zu verdrängen.
Und woran misst Ulla Rose den Erfolg, woraus zieht sie die Kraft, noch lange weitermachen zu wollen? Sie lacht: „Wenn Kursteilnehmer rausgehen und sagen ‚Ich fühle mich gestärkt. Ich habe keine Angst mehr, mich diesem Thema zu stellen. Und ich weiß, wo ich anrufen kann und Unterstützung bekomme, wenn ich sie brauche.‘"