Wohl niemand ahnte den Erfolg, den die BBC ab dem 14. November 1922 haben würde. Immerhin war „Auntie Beeb" noch ein Privatsender. Doch damit wurde der Startschuss zur ältesten nationalen Rundfunkanstalt der Welt gelegt – und der Grundstein des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Es war exakt 18 Uhr, als die Stimme von Arthur Richard Burrows aus knisternden Radiogeräten zu vernehmen war. Als erster Programmdirektor der British Broadcasting Company (BBC) begrüßte der gelernte Journalist am 14. November 1922 die überschaubare Zahl von einigen Tausend Zuhörern vornehmlich im Londoner Umfeld und in der Region um Manchester. Er sprach die Worte: „Das ist 2LO, Marconi House, London calling." Vermutlich dürfte diese Ansage die meisten Besitzer früher Radiogeräte, die teils gekauft, teils selbst zusammengebastelt waren, zunächst einmal ziemlich überfordert haben. Denn „2LO" bezeichnete die von der staatlichen Postbehörde, dem General Post Office (GPO), ausgestellte Sendelizenz. Und „Marconi House" stand für den ersten Sitz der BBC. Im siebten Stock eines repräsentativen Gebäudes in allerbester Londoner City-Lage hatte diese ihre Studios eingerichtet.
Danach trug Burrows, der bald den Spitznamen „Onkel Arthur" bekommen sollte, mit ernster Stimme die wichtigsten Nachrichten des Tages vor, und zwar einmal in schneller Sprechfolge, danach zum besseren Verständnis nochmals in gemächlichem Duktus. Mit der Wettervorhersage wurde die erste Sendung beendet.
Ernste Stimme liest die Nachrichten vor
Die BBC war einige Wochen zuvor, am 18. Oktober 1922, als „Company" gegründet worden, also als Privatunternehmen. Genauer gesagt als Konsortium von britischen und amerikanischen Elektrogeräteherstellern, die durch das Angebot eines Rundfunkprogramms den Absatz ihrer Geräte in der etwa zwei Jahre zuvor eingeleiteten Startphase des Radios zum ersten elektronischen Massenmedium ankurbeln wollten.
Dabei hatte auch das GPO ganz entscheidend die Finger mit im Spiel gehabt. Man wollte auf der Insel einen nicht mehr regulierbaren und möglicherweise Regierungs- und Militärsignale störenden Wildwuchs von ständig neuen Sendern verhindern. So etwas hatte sich 1922 in den USA in einer wahren Sintflut von mehr als 550 Sendern niedergeschlagen. In Großbritannien sollte es nur eine nationale Rundfunkanstalt geben, der BBC wurde daher eine Monopolstellung eingeräumt. Sämtliche anderen Sender, die auf der Insel schon ab 1919 entstanden waren, wurden verboten und im Auftrag der staatlichen Postbehörde als Piratensender ohne GPO-Lizenz von Ermittlern mit Peilwagen verfolgt.
Zunächst hatte man bei der BBC keine Vorstellung, geschweige denn ein Konzept für die Programmgestaltung. Das schlug sich schon in der Installierung des schottischen Ingenieurs John Reith als erster Generaldirektor Ende 1922 nieder. Natürlich hatte dieser erste Manager keine Rundfunkerfahrung – woher auch? „Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was Radio eigentlich war", so Reith, der sich für den Job auf eine Zeitungsannonce hin beworben hatte. Aber er hatte eine Vision: „Der Rundfunk ist eine Entwicklung, die von der Zukunft ernst genommen werden muss. Ein Instrument von fast unschätzbarem Wert für das gesellschaftliche und politische Leben der Gemeinde, in nationalen und internationalen Angelegenheiten."
Im Rückblick wird John Reith immer wieder mit dem berühmten Dreiklang-Credo assoziiert, auch wenn er dieses Programmkonzept nicht erfunden, aber immer wieder propagiert hatte: „Die BBC soll die Menschen informieren, bilden und unterhalten." Und Reith pochte wie seine Nachfolger von Anfang an auf unabhängige und unparteiische Berichterstattung. Zudem war er experimentierfreudig, was sich in frühen Außenübertragungen oder ersten Sportsendungen niederschlug.
Zuhörerzahl schnellte in die Höhe
Das kommerzielle Unternehmen BBC wurde schnell zu einem Publikumserfolg, die Zuhörerzahlen schnellten bald in Millionenhöhe. Auch der Mitarbeiterpool wurde entsprechend ausgebaut. Der Knackpunkt war aber, dass sich das Ganze für die privatwirtschaftlichen Konsortiumsmitglieder finanziell nicht mehr rechnen konnte. Der Verkauf von Radiogeräten hatte nicht die erhofften Summen in die Kassen gespült. Auch die erstmalige Einführung von Rundfunkgebühren im November 1923 in Höhe von zehn Schilling – eine vergleichsweise moderate Summe, die erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erhöht werden sollte – konnte in Kombination mit teils gesponserten Programmen die ständig steigenden Kosten nicht mehr ausreichend decken. Zumal die staatliche Post nur einen kleinen Teil der Gebühren an die BBC weiterleitete.
Zur Rettung und Fortführung der BBC mit ihren rund 2,5 Millionen Gebührenzahlern und 773 Angestellten blieb daher Anfang 1927 nur ein Ausweg. Nämlich die Überführung in Staatsbesitz und damit die Gründung der ersten öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt weltweit – unter dem abgewandelten Namen „British Broadcasting Corporation" (BBC), die ausschließlich durch die Erhebung von Gebühren finanziert werden sollte. Im Volksmund wurde sie bald auf den liebevollen Namen „Auntie Beeb" getauft, also „Tantchen Beeb".
Grundlage für die Umwandlung war ein spezielles britisches Rechtsinstrument namens Royal Charter, das von der britischen Monarchie zur Protektion wichtiger Körperschaften schon seit dem 13. Jahrhundert erlassen werden konnte. „Die Royal Charter ist für die BBC 1926 eingeführt worden", so die britische Medienhistorikerin der Universität Westminster Prof. Jean Seaton. Sie fügt hinzu: „Und die Absicht der Charter ist bis heute, dass die Lizenzierung der BBC oberhalb der Regierung angesiedelt ist. Sie wird vom Staatsoberhaupt verliehen. Gleich zu Beginn war die Idee, dass die Charter der BBC eine verfassungsrechtliche Unabhängigkeit von der amtierenden Regierung gibt."
1936 folgte das Fernsehprogramm
Anfangs war die BBC nur mit wenigen Stunden täglich auf Sendung, wobei es eine bunte Mischung aus Musik und Nachrichten gab. Doch in den 1930er-Jahren wurde das Programm immer weiter ausgebaut, beispielsweise mit der legendären frühen Talkshow „In Town Tonight", die 1933 erstmals ausgestrahlt wurde, fast das gesamte Land vor die Hörfunkgeräte lockte und in der Filmstars wie Errol Flynn interviewt wurden. Die BBC entwickelte sich schnell zu einem weiteren Pfeiler des Vereinigten Königreiches neben der Monarchie und dem Parlament. Die britische Öffentlichkeit schätzte sie vor allem wegen ihrer seriösen Berichterstattung, aber auch wegen ihrer populären Unterhaltungssendungen, die Kultureinrichtungen wie Theatern, Kinos oder Konzerthäusern starke Konkurrenz machten. „Sie hat journalistische Standards gesetzt, sie hat die Leitidee des öffentlichen Rundfunks in Europa überhaupt etabliert oder bekannt gemacht", so der Kommunikationswissenschaftler Prof. Matthias Künzler von der Freien Universität Berlin im Deutschlandfunk.
Mit dem Start des weltweit ersten regelmäßig ausgestrahlten Fernsehprogramms mit jeder Menge Sport, TV-Dramen und Cartoons läutete die BBC im November 1936 ein weiteres Kapitel ihrer Erfolgsgeschichte ein, auch wenn die TV-Ausstrahlungen mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wieder eingestellt werden mussten. „Nun, meine Herren", so der am Aufbau des BBC-Fernsehens maßgeblich beteiligte britische Elektroingenieur Isaac Shoenberg zu Beginn der britischen TV-Ära, „Sie haben den größten Zeitverschwender aller Zeiten erfunden. Nutzen Sie ihn klug."
Während des Zweiten Weltkriegs konnte der britische Premierminister Winston Churchill den Widerstandswillen seines Volkes mit mehr als 30 von der BBC ausgestrahlten Ansprachen stärken. Und dank des BBC World Service, der seit 1938 auch einen deutschsprachigen Dienst etabliert hatte, konnten die Menschen in Nazi-Deutschland verlässliche Nachrichten über das Kriegsgeschehen empfangen, auch wenn das natürlich vom NS-Regime unter schwerer Strafandrohung strikt verboten war. Nach dem Krieg sollten die Westalliierten Hörfunk und Fernsehen in ihren jeweiligen Besatzungszonen gemäß dem gebührenfinanzierten BBC-Vorbild organisieren, wobei der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) in der britischen Zone schon am 4. Mai 1945 erstmals von Hamburg aus auf Sendung ging.
Die Torys zeigten sich unzufrieden
Ausgerechnet zum 100-jährigen Jubiläum der ersten Ausstrahlung sieht sich die traditionsreiche BBC vonseiten der britischen Konservativen erheblich unter Druck gesetzt. Das hat aber nur in geringem Maße mit Skandalen wie der posthumen Enthüllung des beliebten Moderators Jimmy Savile als Kinderschänder zu tun. Es hängt vielmehr damit zusammen, dass die Torys schon seit Margaret Thatchers Regierungszeiten in den 1980er-Jahren mit der politischen Berichterstattung durch die BBC nicht mehr einverstanden sind. Unter Premier Boris Johnson hatte sich die Ablehnung der BBC durch die Konservativen wegen ihrer vermeintlich zu linken Ausrichtung nochmals weiter verschärft.
Als Drohgebärde stand plötzlich eine Abschaffung der Rundfunkgebühren, die derzeit 159 Pfund jährlich kosten, durch ein Abo-System à la Netflix und eine drastische personelle Verkleinerung der BBC im Raum. Sollten die Torys im Jahr 2027 noch den Chef in der Downing Street stellen, könnte bei der dann anstehenden Überprüfung der Royal Charter das Prinzip ernsthaft infrage gestellt werden. Das bisherige BBC-Finanzierungssystem mit jährlichen Einnahmen aus Rundfunkbeiträgen von rund 3,2 Milliarden Pfund ist durchaus mit dem deutschen Medienstaatsvertrag vergleichbar. Wobei die Torys mit Frankreich ein prominentes Beispiel präsentieren könnten –
denn auf Initiative von Präsident Emmanuel Macron wurde die dort seit 1933 erhobene Rundfunkgebühr im Sommer 2022 gestrichen und zur Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Anstalten ein Teil der Umsatzsteuer festgelegt.