Das NFL-Spiel der Seattle Seahawks und Tampa Bay Buccaneers mit Star-Quarterback Tom Brady sorgt für reges Interesse unter den deutschen Sportfans. Die Szene hofft auf einen langfristigen Effekt.

Im Football-Outfit wirkt selbst der eher schmächtige Körper von Thomas Müller recht bullig. Mit dicken Schulterpolstern und einem Helm mit Gitterschutz wagte sich der Fußballstar auf fremdes Terrain, als er für eine Instagram-Story beim Training der Munich Cowboys mitmischte. „Ich habe eine super Ausstattung bekommen und freue mich wie ein Schnitzel", sagte Müller in die Kameras. Aber mit bayerischem Dialekt gab er auch zu: „A bisserl Angst hab i scho ..." Nicht ganz zu Unrecht, im Vergleich zum Fußball ist American Football wesentlich körperbetonter, und so wurde Müller auch kräftig in die Mangel genommen. Deutlich wohler fühlte sich der Nationalspieler beim Kicken, als er den eiförmigen Ball aus über 60 Yards treffsicher zwischen die Stangen bugsierte und lautstark „Field goal!" aufschrie.
Müllers Ausflug in die andere Sportart kam natürlich nicht von ungefähr, er sollte seine Vorfreude auf das Highlight am 13. November zum Ausdruck bringen: In der Münchener Allianz Arena, wo sonst Müller und die anderen Bayern-Profis ihre Heimspiele austragen, duellieren sich die Football-Teams Seattle Seahawks und Tampa Bay Buccaneers – in einem offiziellen NFL-Spiel! Das Interesse am ersten Match der nordamerikanischen Profiliga auf deutschem Boden war gigantisch, innerhalb von einer Stunde waren alle online zum Verkauf stehenden 50.000 Eintrittskarten verkauft. Die Premium-Tickets waren sogar in zwei Minuten allesamt vergriffen. Wer ein Ticket ergattern konnte, durfte sich glücklich schätzen: Insgesamt hatten sich bis zu 750.000 Menschen in der digitalen Warteschlange registriert.
Alexander Steinforth, der General Manager der NFL in Deutschland, verbreitete gar die Kunde, man hätte „rund drei Millionen Tickets verkaufen können". So eine Nachfrage an einem Einzelevent gäbe es „sonst nur beim Super Bowl", so Steinforth. Fakt ist: Der NFL-Hype hat Deutschland längst erreicht – das gibt sogar „König Fußball" zu denken. „Wenn mir etwas Sorgen bereitet: Wir nehmen es als gottgegeben hin, dass Fußball immer der Nummer-eins-Zuschauersport ist. Wenn man aber sieht, wie jüngere Generationen Sport konsumieren und wie viele andere Optionen sie haben, muss man das ernst nehmen", sagte Bayern Münchens Vorstandschef Oliver Kahn.
Steigende Quote beim TV-Publikum
Wer selbst Kinder im Schulalter hat, der weiß: Begriffe wie „Fumble", „Flea Flicker" oder „Safety" fallen auf deutschen Schulhöfen immer öfter, Trikots der NFL-Teams sind immer beliebter. Dass Football vor allem bei jungen Sportfans äußerst beliebt ist, beweist die jüngste Auswertung der AGF Videoforschung, dem Zusammenschluss der deutschen TV- und Streaminganbieter. In deren Quoten-Ermittlung kam heraus, dass 33,8 Prozent der 14- bis 49-Jährigen mindestens einmal im Fernsehen mit Football in Kontakt kamen. Auf einen höheren Wert kam nur Fußball (84,8). „Diese Studie bestätigt unsere Überzeugung, dass American Football kein Nischenprodukt, sondern in der Mitte der sportbegeisterten Gesellschaft angekommen ist", sagte Unternehmer Zeljko Karajica. Als Geschäftsführer der vor zwei Jahren gestarteten European League of Football (ELF) hat er natürlich besonderes Interesse daran, dass der Boom anhält. Was einst bei „ran NFL" als Spartenprogramm begann, hat sich inzwischen zu einem massentauglichen Produkt entwickelt – und das wird auch in Nordamerika honoriert. Karajicas Mitstreiter Patrick Esume, einer der ELF-Hauptinitiatoren und Moderator bei den NFL-Übertragungen beim TV-Sender ProSieben Maxx, glaubt deshalb: „Der Hype wird beständig größer. Davon bin ich zutiefst überzeugt."
Viele Insider glauben, dass das NFL-Spiel in München die Euphorie um das Spiel mit dem eiförmigen Ball weiter entfachen wird, weil plötzlich auch Menschen genau hinschauen, die sich sonst nicht mit der in Deutschland wenig traditionsreichen Sportart beschäftigen. „Bekanntheit hilft immer", sagte Werner Maier, Präsident der Munich Cowboys, bei denen Thomas Müller sein „Probetraining" absolvierte. „Aber es ist auch ein zweischneidiges Schwert, weil einige uns dann an der NFL messen." Das Niveau und auch die Stimmung sowohl in der ELF als auch in der heimischen German Football League kann sich bei Weitem nicht mit der NFL messen, aber das ist bei Sportarten wie Eishockey oder Basketball auch nicht anders.

Wichtig sei, dass sich die Sportart hierzulande nach vorne entwickelt und das Umfeld mit der gestiegenen Beliebtheit Schritt hält. Und genau da liegt ein Problem. „Das Schlimmste ist, wenn 200 Kids kommen zum Football spielen – und wir das nicht bedienen können", sagte Maier. Dann kommen diese 200 Kinder wahrscheinlich kein zweites Mal. In München gebe es zum Beispiel zu wenige Trainingsplätze, auch wenn die Stadt „da dran" sei, wie Maier verriet: „Es gibt wohl auch schon einige passende Flächen". Doch kurzfristig sei so gut wie nichts machbar. „Wir reden über langfristige Planungen, das kann noch gut fünf bis zehn Jahre dauern". Dass in die Infrastruktur und auch Trainerausbildung investiert werden muss, ist für den Cowboys-Boss klar: „Wir spüren seit fünf bis sechs Jahren einen Aufwind." Und mit dem NFL-Spiel in München, weiß Linebacker-Kollege Kevin McCarthy, „kommt noch mal ein größerer Hype". Das habe er schon in London beobachtet, wo seit 2007 in jeder Saison NFL-Spiele stattfinden.
Auch 2022 ist München nicht alleiniger Austragungsort für die NFL. Drei Partien der 103. Saison finden in Großbritannien statt, eine in Mexiko. In Deutschland wird bis 2025 jeweils ein Spiel der Hauptsaison ausgetragen, München und Frankfurt sollen sich dabei als Gastgeber abwechseln. Das sei „eine große Ehre" für die bayerische Landeshauptstadt, meinte Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter: „Viele Münchener werden begeistert sein, dass dieses spektakuläre Sportereignis in ihre Stadt kommt."
Brady war früher kein Überflieger
Für Spektakel und Glamour soll vor allem Tom Brady sorgen. Der Quarterback der Tampa Bay Buccaneers ist selbst für NFL-Verhältnisse ein Superstar, jeder seiner Schritte in Deutschland wird von den Medien verfolgt, jeder seiner Spielzüge analysiert werden. Das ist in Nordamerika nicht anders, dort haben seine Trennung von Ehefrau und Topmodel Gisele Bündchen sowie seine zuletzt schwachen Leistungen für Schlagzeilen gesorgt. Ende Oktober verloren die verletzungsgeplagten Bucs drei Spiele in Serie, auch Brady war in diesem Zeitraum ein Schatten seiner selbst. „Ich glaube nicht, dass irgendjemand ein gutes Gefühl hat", sagte der 45-Jährige: „Wir sind nicht da, wo wir sein wollen, aber wir haben es uns nicht verdient. Du musst es dir verdienen. Man muss hart kämpfen und herausfinden, wie man Spiele gewinnen kann."
Wenn einer weiß, wie man Spiele gewinnt – vor allem die wichtigen –, dann ist es Tom Brady. Der Quarterback war früher alles andere als ein Überflieger, beim NFL-Draft wurde er nur an Nummer 199 von den New England Patriots gezogen. Doch Brady biss sich durch, er lernte schnell und hob das Spiel auf ein neues Niveau. Er führte die Patriots zu sechs Super-Bowl-Siegen, ehe er nach Tampa Bay wechselte und auch dem Mittelklasse-Club 2021 den größten Triumph im American Football bescherte. Ein achter Ring am Finger in seiner bereits 23. NFL-Saison würde ihn endgültig unsterblich machen. „Jedes Mal, wenn du aufs Spielfeld trittst, gibt es etwas zu beweisen", sagte Brady: „Es ist ein brutales Spiel, darauf muss man vorbereitet sein." Die Seattle Seahawks, die im Zeitraum der Bucs-Pleitenserie ihre drei Spiele allesamt gewinnen konnten, gehen als leichter Favorit ins Duell. Die Entwicklung überrascht ein wenig, schließlich mussten die Seahawks vor der Saison den Abgang ihres Star-Quarterbacks Russell Wilson verkraften. Doch dessen Nachfolger Geno Smith überzeugte bislang, das Team wirkt sehr gefestigt.

Auf das Gastspiel in München freut sich der Ausnahmekönner besonders – aus einem bislang wenig bekannten Grund. „Ich habe deutsche Wurzeln", verriet Brady kürzlich: „Es wird grandios, nach München zu kommen." Bradys Großmutter Bernice Theresa Obitz soll deutsche Vorfahren haben, ihr Großvater wanderte einst von Deutschland in die USA aus. Doch nicht nur deshalb sieht Brady den Trip nach Europa als eine gute Sache an. „Ich habe aber großartige Erinnerungen an die Spiele in London und Mexiko", sagte er. Es sei wichtig und richtig, die Faszination des Footballs auch in andere Regionen der Welt zu streuen.
Eines der Vorteile bei der NFL – aber auch bei den anderen Profiligen in Nordamerika: Die sogenannte „Competetive Balance". Weil alle Vereine grundsätzlich denselben Spieleretat haben, schwächere Teams mit frühen Picks beim Draft gefördert werden und das K.o.-System in der entscheidenden Saisonphase Überraschungen ermöglicht, gibt es deutlich mehr Wettbewerb in der Liga. Eine lähmende Dauer-Dominanz wie die des FC Bayern in der Fußball-Bundesliga ist hier unvorstellbar. Es ist kein Zufall, dass sich langjährige Fußballfans verstärkt mit der NFL beschäftigen.
Das Interesse an dem NFL-Spiel in München sei jedenfalls „absolut verrückt", wie NFL-Deutschland-Chef Alexander Steinforth es beschrieb, „nie zuvor in meinem Berufsleben habe ich eine vergleichbare Begeisterung für andere Sportveranstaltungen in Deutschland erlebt". Der übertragende TV-Sender ProSieben berichtet ab 14 Uhr live und freut sich auf eine vermutete Rekordquote für Football-Übertragungen. Während des Super Bowls schalten mitten in der Nacht jährlich um die zwei Millionen Zuschauer ein. Dass RTL in den TV-Rechte-Poker eingestiegen ist und sich die Übertragungsrechte für den deutschen Raum ab 2023 gesichert hat, zeigt, dass der Markt für die Sportart hierzulande immer größer wird.