Nach seinem hauchdünnen Wahlsieg übernimmt Lula da Silva das Präsidentenamt in Brasilien. Die weltweite Klimaschutzbewegung jubelt. Doch auf seinem Problemberg liegen Umweltfragen keineswegs ganz oben.
Er wolle diesen „außergewöhnlichen Sieg der Demokratie und dem brasilianischen Volk widmen. Endlich ist die Freiheit wieder da und die Menschen können wieder lächeln." Mit diesen Worten wandte sich der künftige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva nach seinem hauchdünnen Wahlsieg an die Brasilianer. Grenzenlos war der Jubel seiner Anhänger, nachdem der rechtsextreme Amtsinhaber Jair Bolsonaro abgewählt war – mit nur knappen 1,8 Prozent Rückstand.
Das Ergebnis hat weit über die Grenzen des größten Landes Lateinamerikas hinaus tiefgreifende Folgen. Südamerika wird mit dem Erfolg der brasilianischen Arbeiterpartei PT nun praktisch flächendeckend sozialdemokratisch regiert – von Chile bis Kuba und von Feuerland bis Mexiko haben linke Regierungen das Sagen. Damit setzt sich die überwiegend spanischsprachige Region von der Tendenz anderer Weltregionen ab, nationalistische Populisten an die Macht zu hieven.
Bei der internationalen Umweltschutzbewegung gilt der künftige Präsident Lula als ein Hoffnungsträger. Hatte „Tropen-Trump" Bolsonaro doch zum Entsetzen von Klimaaktivisten den Amazonas-Urwald als rein wirtschaftliches Nutzgebiet ausgewiesen. Dort wächst der größte Regenwald der Erde, dort fließt der wasserreichste Fluss und dort liegt die artenreichste Savanne.
Klima entschied nicht die Wahl
Sozialdemokrat Lula hatte versprochen, das zurückzufahren, was der Ex-Soldat und Wirtschaftslobbyist Bolsonaro in der grünen Lunge der Erde zugelassen hatte: illegalen Goldabbau, massive Baumfällungen, Weidelandgewinnung durch Waldverbrennung, Vernichtung von Lebensraum für indigene Völker und einzigartige Tierarten. Experten schätzen: Während Bolsonaros Präsidentschaft wurden zwei Milliarden Bäume verbrannt oder abgeholzt – allein im ersten Halbjahr dieses Jahres sei eine Fläche von der Größe des Großraums London vernichtet worden. Rico Fischer vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig: „20 Prozent des Amazonaswalds sind bereits vollständig zerstört, ein ebenso großer Teil geschädigt." Gisele Costa, Professorin an der Federal University of Amazonas, Manaus: „Mit Bolsonaro hätte der Amazonas keine zehn Jahre überlebt."
Nun hat sich der Wind gedreht. Brasilien dürfte in der internationalen Umwelt-, Klima- und Biodiversitätspolitik wieder ein verlässlicher Partner werden. Lula, der schon von 2003 bis 2010 regierte, hat eine neue Politik angekündigt. Umwelt- und Kontrollbehörden sollen mehr Befugnisse bekommen und internationale Hilfe angenommen werden. Er werde die Klimakrise zur „absoluten Priorität" machen, verspricht der 77-Jährige, der seine Pläne „fast schon ein Glaubensbekenntnis" nennt. Die Verantwortung zum Schutz des 5,5 Millionen Quadratkilometer großen Amazonas, dessen Einzugsgebiet die Größe der EU übersteigt und zentrale Bedeutung für das Weltklima hat, steht außer Zweifel.
Doch die im Ausland leidenschaftlich diskutierte Umweltfrage war für Millionen Brasilianer keineswegs die wahlentscheidende Frage. Es ist eine Ironie, dass Bolsonaro ausgerechnet bei der Landbevölkerung im gefährdeten Amazonien mehrere Kantersiege eingefahren hat. Der auf nationaler Ebene abgewählte Amtsinhaber gewann in den Bundesstaaten Acre und Rondônia über 70 Prozent der Stimmen, in Roraima sogar 76 Prozent. Hier denkt man nicht ökologisch, sondern nur ökonomisch. Es geht um Export von Soja und Rindfleisch. Top-Priorität haben Umweltfragen nur bei den liberalen, grün gesinnten Bildungsbürgern aus Ballungsgebieten wie Rio de Janeiro und São Paulo. Zudem haben viele Lula-Wähler für den einstigen Arbeiterführer in erster Linie in der Hoffnung auf höheren Lebensstandard gestimmt, nicht aus Motiven des Umweltschutzes. Bolsonaro wiederum sammelte Punkte, weil die Wirtschaft des großen Landes sich zuletzt deutlich robuster gezeigt hatte als zu Amtsbeginn. Selbst das desaströse Handling der Coronakrise, bei der sich Bolsonaro als Pandemieleugner sowie Masken- und Impfgegner hervorgetan hatte, schadete ihm nicht wesentlich.
Jeder zweite Brasilianer setzte sein Kreuz nicht hinter dem Namen des künftigen Präsidenten, sondern hinter dem seines erbittertsten Widersachers. Lula steht somit bei seinem Comeback vor einem riesigen Problem. Er wird ein exakt durch die Mitte gespaltenes Land führen müssen. Wenige Minuten nach der Siegesmeldung zeigte er sich flexibel: „Es gibt keine zwei Brasilien, wir sind ein Land, ein Volk, eine große Nation. Ich werde für alle regieren, reich und arm, links und rechts. Es ist an der Zeit, die Waffen niederzulegen."
Im Parlament hat Lula jedoch keine Mehrheit. Die Ultrakonservativen dominieren. Durchregieren kann Lula somit nicht. Orlando Silva, Lulas einstige Sportministerin, nennt das starke Abschneiden des Bolsonaro-Lagers bei den zeitgleich durchgeführten Bundesstaats- und Kommunalwahlen „schockierend, unglaublich und sehr ernst." Die Linke in Brasilien müsse „auf die Botschaft hören, die uns das Volk geschickt hat."
Durch die Mitte gespalten
Lulas Programm für soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz, Verteidigung der Demokratie und Einheit des Landes kommt in den Lackmustest der Realität. Rechte von Ureinwohnern, moderne Geschlechterpolitik, Frauenförderung oder Freiheitsdiskurse – er wird erhebliche Abstriche machen müssen. Selbst der Waldschutz werde nach einem Regierungswechsel „anfangs sicher nicht zur obersten Priorität einer neuen Regierung gehören", warnt Bioökonom Jan Börner von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Der Erfolg Lulas wird davon abhängen, ob seine Arbeiterpartei (PT) politische Voraussetzungen schafft, um das wirtschaftliche und soziale Wohlergehen der 215 Millionen Einwohner zu verbessern. Dazu braucht es Maßnahmen gegen strukturelle Schwächen. Eine davon ist die hohe Schuldenquote. Sie stellt eine hohe Barriere für staatliche Investitionen dar. Um interessant für private Investoren zu werden, müsse das Land Finanzen neu ordnen und Weichen für eine höhere Produktivität stellen, analysiert Fabian Nemitz von der bundeseigenen Deutschen Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing. Doch Lula wecke wenig Hoffnungen auf Reformen. Er sei wie Bolsonaro im Grunde ein Populist – nur aus dem anderen Lager.
Der IWF traut dem Schwellenland in den kommenden fünf Jahren nur ein Wirtschaftswachstum von real knapp zwei Prozent pro Jahr zu. Das wäre zu wenig, um das enorme wirtschaftliche Potenzial des Landes signifikant zu heben. Dabei hat Brasilien davon reichlich. Es verfügt über enorme natürliche Ressourcen, eine breit aufgestellte Industrie inklusive bedeutender Ölförderung im Atlantik, gut ausgebildete Arbeitskräfte und eine Landwirtschaft, die maßgeblich zur Welternährung beiträgt. Laut einem Bericht der Weltbank zufolge wuchs die Mittelschicht in Brasilien zwischen 2003 und 2009 um 50 Prozent. Es wird jedoch nicht einfach sein, diesen Erfolg in einer Weltwirtschaft, die auf eine Rezession zusteuert, zu wiederholen.
Die Staatskunst Lulas wird sich weniger an Umwelt- und Klimafragen erweisen, sondern daran, ob er Kompromisse eingehen, das Land zusammenführen und linken Versuchungen widerstehen kann. So warnen Kritiker vor einem unmäßigen Hochfahren von Sozialmaßnahmen und klientelorientierter Subventionen. Wenn der Ballon überdehnt werde, könnten Lulas Träume platzen.
Indessen ist Bolsonaro – ähnlich wie Trump in den USA – keineswegs weg vom Fenster. Seine ideologische Agenda, die den Staatsinstitutionen Verachtung entgegenbringt, wird Brasilien weiter prägen. Bis jetzt konnte sich Bolsonaro nur nach langem Zögern durchringen, seine Wahlniederlage wenigstens implizit einzugestehen.