14 Minuten lang regnet es bei den Filmfestspielen in Venedig Applaus. Gleichzeitig wird „Blond“ als pornografischer Mist beschimpft. Ob man den Film mag oder nicht, hat viel mit den eigenen Erwartungen zu tun. „Blond“ ist vielleicht kein guter Film. Aber er ist unbedingt sehenswert!
Blond“ ist keine Marilyn Monroe-Biografie, sondern eine Romanverfilmung nach Joyce Carol Oates. Die Erzählung hangelt sich, stark komprimiert, an einzelnen Episoden im Leben der Hollywood-Ikone entlang. Es wird vereinfacht, überzeichnet, ausgelassen und hinzugedichtet. Diese Fiktion über die Frau hinter der Kunstfigur soll nicht die Wahrheit abbilden, sondern Marilyns Wesen einfangen, oder besser: eine Facette ihres Wesens. Regisseur Andrew Dominik will zeigen, wie multiple Kindheitstraumata (abwesender Vater, geisteskranke Mutter, sexueller Missbrauch) ihre Wahrnehmung der Welt bis in den viel zu frühen Tod prägten. Das gelingt ihm vollends.
Wir schauen zu, wie Marilyn weint und fleht, wie sie sich für Erfolg und Liebe abstrampelt und dabei immer tiefer in einem Sumpf aus Trauer und Schmerz versinkt. Das ist das Verstörende an diesem Film. Er ist anstrengend, weil er seiner eindimensionalen Betrachtung von Marilyn als Opfer gnadenlos treu bleibt. Ihr Golden Globe für „Manche mögen’s heiß“ (1959), die Gründung ihrer eigenen Produktionsfirma, ihr Engagement für Waisenkinder und Bürgerrechte werden nicht thematisiert. Dominiks Marilyn ist das Mädchen, das gelernt hat, ohne Murren alles hinzunehmen. Als ein Studioboss sie vergewaltigt, wehrt sie sich nicht, als ihr Ehemann sie ohrfeigt, entschuldigt sie sich, und beim Oralsex ermahnt sie sich, „es“ einfach zu schlucken.
Verwundbarkeit berührend verkörpert
„Blond“ ist kein Porno. In jeder Realityshow wird mehr gerammelt. Marilyns Nacktheit ist geschmackvoll inszeniert und wirkt nie obszön, sondern kindlich sorglos. Eine ménage à trois erhält durch Verzerrungseffekte eine traumähnliche, spielerische Ästhetik. Die umstrittene Blowjob-Szene hingegen ist aufgrund der emotionalen Grausamkeit schwer zu ertragen. Hier liegt der Fokus auf Marilyns Gesicht und ihren Gedanken. Dank des allzu offensichtlich als Orgasmus-Metapher dienenden Raketenstarts auf einem TV-Bildschirm im Hintergrund wirkt die Szene grotesk.
So sehr „Blond“ auch polarisiert, ein paar Dinge werden einhellig gefeiert: Der betörende Bilderrausch ist meisterhaft fotografiert von Chayse Irvin. Edle Hochglanzoptik und strenges SchwarzWeiß wechseln sich ab mit körnigem Retrolook, der an alte Kodachrome-Schnappschüsse aus dem Sommerurlaub erinnert. Die Willkür dieses Wechsels dient nicht dem Selbstzweck. Sie spiegelt Marilyns emotionales Chaos wider. Um ihre Hilflosigkeit und Überforderung auf den Zuschauer zu übertragen, greift Regisseur Dominik mit Vor- und Rückblenden, 4:3 und Cinemascope, Zeitlupe, CGI und mehr tief in die Trickkiste. Das darf er auch, denn „Blond“ ist experimentelle Kunst. Mal gelingt sie (geifernde Männermeuten mit digital verzerrten Mäulern), mal nicht (sprechender Fötus). Täuschend echt sind die Nachstellungen berühmter Filmszenen, und nahezu perfekt ist Ana de Armas, die mit absoluter Hingabe eine Marilyn verkörpert, deren zarte Verwundbarkeit tief berührt.
Der melancholische Soundtrack (Nick Cave und Warren Ellis) untermalt das große Thema von „Blond“: die Unerreichbarkeit. Die sehnsüchtigen Klänge sphärischer Streicher und Synthesizer sind wunderschön, überfrachten den Film allerdings.
Dass Andrew Dominik, entgegen aller kritischen Stimmen, die ihn der Ausbeutung beschuldigen, seiner Muse sehr wohl Respekt und Mitgefühl zollt, wird spätestens in der letzten Szene klar. Sie wurde dort gefilmt, wo Marilyn starb, in ihrem Schlafzimmer, in einem nach Hollywood-Maßstäben bescheidenen, hübschen weißen Haus im spanischen Stil. Am Ende sehen wir ihren nackten Fuß, der reglos über die Bettkante hinausragt. Die Musik ist verstummt. Vögel zwitschern und in der Ferne spielen Kinder.