Erneut ist das Flüchtlingsthema in aller Munde. Migrationsexperte Gerald Knaus sieht dabei Fehler in der Kommunikation. Ein Gespräch über die Wahrung von Menschenrechten, moralischen Realismus und Lösungen für die Zukunft.
Herr Knaus, über wen reden wir eigentlich, wenn wir derzeit von „Flüchtlingen“ sprechen?
Wir reden über Schutzsuchende, die über eine Grenze in einen anderen Staat gekommen sind und dort entweder als Gruppe, wie heute im Fall der Ukrainerinnen, oder individuell, nach einem Asylverfahren, Schutz gewährt bekamen. Wer so anerkannt wird, der wird im jährlichen Bericht des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR), der jeden Sommer als „Global Trends“ erscheint, als Flüchtling gezählt. Im Bericht vom Sommer 2022 gab es 21,3 Millionen Flüchtlinge „unter dem Mandat des UNHCR“.
Sie erklären, die Zahlen, die der UNHCR über Vertriebene und Flüchtlinge veröffentlicht, seien irreführend. Demnach tauchten auch Menschen in der Statistik auf, die schon der dritten und vierten Generation angehörten und gar nicht auf der Flucht seien. Von wie vielen Menschen sprechen wir?
Die UNHCR-Kommunikation ist problematisch. Der UNHCR spricht von „durch Gewalt Vertriebene“, das waren Ende 2021 89 Millionen weltweit. Viele denken, das sind vor allem Flüchtlinge, denn für diese Gruppe ist der UNHCR ja vor allem verantwortlich. Allerdings werden seit einigen Jahren auch die fast 6 Millionen Nachfahren der Palästinenser, die 1948 vertrieben wurden, und mit denen der UNHCR nichts zu tun hat, mitgezählt. Die größte Gruppe sind ohnehin Dutzende Millionen Binnenvertriebene, darunter viele, die etwa schon vor 20 Jahren in Kolumbien im Zuge des damaligen Bürgerkrieges in Städte geflohen sind. Unter Flüchtlingen werden immer noch Vietnamesen mitgezählt, die von China im Sommer 1979 aufgenommen wurden, und seit Jahrzehnten erfolgreich integriert sind. Es werden Menschen in Pakistan und im Iran gezählt, die in den 80er-Jahren vor der sowjetischen Armee aus Afghanistan geflohen sind. So hilft uns diese Zahl, die im Zentrum der UNHCR-Kommunikation steht, überhaupt nicht zu verstehen, was in der Welt heute tatsächlich passiert. Dass etwa zwischen 2017 und 2021 die Zahl der Flüchtlinge „unter dem Mandat des UNHCR“ in der Welt in vier Jahren nur um 1,4 Millionen gewachsen ist, erstaunt viele. Dass sehr viele „neue“ Flüchtlinge in diesen Jahren auch keine Grenze überschritten haben auch, denn es sind etwa die Kinder von Flüchtlingen in der Türkei oder Deutschland. Und dass so tatsächlich, entgegen den von Populisten geschürten Ängsten, in den letzten Jahren weltweit nur sehr wenige Schutzsuchende als Flüchtlinge aufgenommen wurden deutet auf ein echtes Problem hin. Es stimmt eben nicht, dass Menschen, wenn sie in einer wirklich verzweifelten Lage sind, auch tatsächlich fliehen können. Seit Jahren können dies die allerwenigsten.
Worauf stützen sich Ihre Zahlen?
Es geht darum, die Zahlen des UNHCR kritisch zu lesen. Wenn der UNHCR sagt, es gibt heute „100 Millionen gewaltsam Vertriebene“ in der Welt, dann muss man genau hinsehen und nachfragen: Wer wurde wann wohin vertrieben? Vieles, was die meisten über Flüchtlinge zu wissen glauben, stimmt eben nicht. Welcher Kontinent hat in den letzten zehn Jahren weltweit am meisten Flüchtlinge aufgenommen? Europa, schon vor der Invasion der Ukraine. Asien hingegen ist eine Schutz- und Asylwüste, wo kaum Flüchtlinge Schutz finden. Ebenso wichtig ist es zu wissen, dass die großen Flüchtlingsbewegungen der letzten zehn Jahre vor allem dort möglich waren, wo Staaten ihre Grenzen offenhielten: die Türkei für Syrer, Uganda für Menschen aus dem Südsudan, die EU für Ukrainer. Nicht Fluchtursachen, sondern die Politik von Staaten an Grenzen, erklärt, wie viele Flüchtlinge es wo gibt.
Wo sehen Sie derzeit die größten Probleme bei der Seenotrettung?
Menschen, die in Gefahr sind zu ertrinken, muss man ohne Zögern retten. Das ist ein Grundsatz des Völkerrechts und die Grundlage jeder Moral. Menschen, die man gerettet hat, darf man auch weder direkt oder indirekt in neue Gefahren bringen. So sehe ich nicht, wie man moralisch die derzeitige Kooperation der EU mit Libyen bei Rückführungen rechtfertigen kann, wenn man weiß, dass hier Menschen in einem Bürgerkriegsland große Gefahr laufen, misshandelt zu werden. Wenn man aber nicht mehr mit Libyen kooperieren soll, was dann? Nehmen wir an, es gelingt mit einer größeren Mission jeden, der im zentralen Mittelmeer in Seenot gerät, schnell zu retten. Wie überzeugt man dann Italien, oder Malta, dass das nicht zu einer Wiederholung der Situation führt, die es zwischen 2014 und 2017 schon gab, als sich jedes Jahr immer mehr Menschen in Boote setzten, und jedes Jahr mehr Menschen ertranken. 2016 mehr als 4.500, trotz Rekordzahlen bei der Seenotrettung.
Laut Ihrer Aussage sollte man schon verhindern, dass überhaupt erst so viele Menschen in Boote steigen. Wie wollen Sie das machen?
Wenn man Leben retten will, muss man lebensgefährliche irreguläre Migration reduzieren. Dazu ist eine Partnerschaft mit einem Nicht-EU Staat notwendig, in den man gerettete Menschen bringen und wo man auch faire Asylverfahren durchführen könnte. Wer dann, ab einem Stichtag, in Boote steigt, und gerettet wird, kommt nicht mehr automatisch in die EU, aber eben auch nicht nach Libyen. Das Ziel muss sein, die Zahl der Ankommenden schnell zu reduzieren, wie in der Einigung der USA mit Kuba im September 1994 oder bei der EU-Türkei-Erklärung im März 2016. In Tunesien könnte der UNHCR entsprechende Asylverfahren durchführen. Entscheidend ist aber etwas anderes: die EU müsste Tunesien ein Angebot machen, das für Tunis mindestens so attraktiv ist, wie es die 2016 EU-Türkei-Erklärung für Ankara war: mit konkreten Angeboten für legale Arbeitsmigration für Tunesier, mit viel mehr Stipendien, mit einem Prozess der das Ziel von Visaliberalisierung hat. Dazu Unterstützung von Investitionen in Tunesien, etwa im Bereich Erneuerbare Energien, durch deutsche Hermes-Bürgschaften. Es geht um ein Paket, das so attraktiv sein muss, dass nicht nur Tunesier es vorschlagen, sondern auch andere Staaten so etwas wollen. Dann könnte man die Zahl jener, die in Nordafrika in Boote steigen, drastisch reduzieren, Leben retten, und sich von Libyen unabhängig machen. Und mehr legale Mobilität wäre auch ein Gewinn für alle.
In einer Reportage der „Zeit“ aus diesem Jahr berichten Flüchtlinge und Hilfsorganisationen entlang der Balkanroute von Verletzungen durch ungarische Behörden, die auf gezielte Folter hinweisen. Es gab Anschuldigungen gegen mehrere EU-Länder wegen illegalen Pushbacks. Wer kontrolliert diejenigen, die die EU-Grenzen kontrollieren?
In den letzten zwei Jahren wurden an den europäischen Außengrenzen grundlegende europäische Konventionen und Gesetze oft systematisch verletzt. Darum geht es in meinem neuen Buch „Wir und die Flüchtlinge“: manchmal halb verdeckt, manchmal vollkommen offen, wird heute systematisch Recht gebrochen. Das ist dramatisch. Wir haben in der europäischen Debatte einen Punkt erreicht, an dem die 27 Mitgliedsstaaten in Brüssel es aufgegeben haben, einander für die Durchsetzung von EU-Recht, oder den Konventionen zum Schutz von Kindern und der Menschenrechte zur Rede zu stellen. Das bedeutet im Kern, dass die Europäer derzeit an ihren Außengrenzen die Durchsetzung ihrer eigenen, die Menschenwürde schützenden Gesetze nicht mehr als Priorität sehen. Hier braucht es politische Strategien. Man muss Regierungen davon überzeugen, wie gefährlich es ist, Grundrechte als Grundlage moderner europäische Demokratien auszusetzen. Und man muss zeigen, dass es Alternativen gibt, etwa durch eine neue Generation von Partnerschaften.
Worin liegt derzeit die Problematik von Rückführungen?
Wir brauchen bei Debatten über Rückführungen mehr Realismus. Es ist legitim, Menschen, die ausreisepflichtig sind, abzuschieben. Aber es ist eine andere Sache, wenn das erst nach vielen Jahren passiert, in denen Menschen neue Wurzeln geschlagen haben, weil Verfahren viel zu lange dauern. Dazu sollten strategische Rückführungen weitere irreguläre Migration reduzieren. Wenn Deutschland derzeit jedes Jahr willkürlich eine immer sehr kleine Anzahl von Menschen aus Westafrika abschiebt, die zum Teil schon jahrelang hier sind und keine Straftäter, dann reduziert das keine zukünftige irreguläre Migration. Man bräuchte Abkommen, wo Rückführungen Ausreisepflichtiger so erfolgen, dass wenige Rückführungen möglichst viele, die keinen Schutz brauchen, davon abhalten, überhaupt aufzubrechen.
Laut einem Bericht der EU-Kommission über Migration und Asyl ist die Zahl irregulärer Flüchtlinge entlang der Mittelmeerrouten 2022 von knapp 80.000 auf 120.000 gestiegen. Entlang der Balkanroute wurden dreimal so viele irreguläre Grenzüberschreitungen verzeichnet wie 2021. Dazu kommen Flüchtlinge aus der Ukraine. Laut dem BAMF ist die Zahl an Asylanträgen in Deutschland von 2021 auf 2022 um 34,5 Prozent gestiegen. Viele Kommunen fühlen sich schon jetzt überfordert. Sollte Deutschland trotzdem noch mehr Flüchtlinge aufnehmen?
Die Krise, die wir heute in den Kommunen haben, ist das Ergebnis der größten Fluchtbewegung in Europa seit den 40er-Jahren. Ja, in diesem Moment nimmt Deutschland auch durch Resettlement Leute auf, etwa aus Afghanistan. Doch nicht diese kleine Zahl überfordert die Kommunen, sondern die viel größere Flucht vor Putins Invasion. Diese Zahl kann in diesem Winter weiter steigen. Was andere Asylantragsteller betrifft muss man unterstreichen, dass in den letzten Jahren, auch 2022, nur wenige Schutzsuchende neu aus dem Nahen Osten in die EU kamen. Jene, die jetzt in Deutschland einen Asylantrag stellen, sind in vielen Fällen bereits länger in der EU gewesen. Sie ziehen heute von einem Teil der EU, Griechenland, in den anderen, Deutschland. Das ist aber eine Bewegung, die bald ein Ende finden wird, weil jetzt nur noch wenige Schutzsuchende in Griechenland sind.
Die Überforderung der Menschen scheint weniger mit den realistischen Zahlen zusammenzuhängen als mit dem subjektiven Eindruck, der entsteht. Glauben Sie Zahlen helfen, den Menschen ihr Gefühl von Überforderung zu nehmen?
Das Problem ist eine falsche Kommunikation, die suggeriert, dass wir vor einer „gewaltigen Fluchtbewegung“ stehen, etwa aus Afrika, oder aufgrund von Klimawandel, die sich immer mehr vergrößern wird. Dann lesen Menschen Nachrichten von einem Vorfall im Zentralen Mittelmeer oder sehen dramatische Bilder an den Außengrenzen. Das vermischt sich zum Eindruck bei manchen, Europa sei im Belagerungszustand. Und wenn dann eine historisch einmalig große Zahl von Flüchtlingen aus der Ukraine dazukommt, haben viele Menschen das Gefühl, Staaten verlieren jede Kontrolle. Doch das stimmt nicht. Hier muss man nicht nur theoretisch aufklären, sondern auch Lösungen anbieten. Man muss zeigen, wie es möglich ist, irreguläre Migration human zu reduzieren. Und dafür in einem Land wie Deutschland, wo an allen Ecken und Enden ein sich verschärfender Arbeitskräftemangel besteht, Migration legal organisieren, mehr jungen Menschen eine Chance geben, ohne Lebensgefahr nach Deutschland einzureisen. Ich bin überzeugt, dass Deutschland mit der aktuellen Bundesregierung die Möglichkeit hat, der ganzen Welt und dem globalen Flüchtlingsschutz einen besseren Weg aufzuzeigen.