Medienpsychologe Prof. Dr. Frank Schwab beleuchtet im Gespräch den Erfolg von Serien und erklärt, warum das Geschichtenerzählen sogar aus evolutionärer Sicht sinnvoll ist.
Herr Professor Schwab, wenn man es verkürzt darstellt, wird oft gesagt: Serien sind die neuen Kinofilme. Ist das so?
Früher war das Kino der Ort, an dem man kunstvoll Geschichten erzählen konnte, weil man dort anderthalb, zwei oder auch mal drei Stunden Zeit hatte. Dann hat man mit dem Aufkommen der privaten Anbieter gemerkt: Hier passiert etwas, wo Narrative und filmische Erzählungen vielleicht besser werden als das, was das Kino möglich macht. Ich würde sagen, „Sopranos“ war eine der ersten großen Erzählungen über mehrere Folgen hinweg. Und dann haben die privaten amerikanischen Anbieter weitere große Erzählungen gebastelt wie „Game of Thrones“ und „Breaking Bad“ und all die hochgelobten, tollen Narrative, die auch beim Publikum erfolgreich waren.
Damit hat sich ja auch das Konsumverhalten des Publikums verändert …
Ein Phänomen, das damit einhergeht, ist das Binge-Watching. Man kann sich mit den Streamingdiensten von der Programmstruktur lösen und muss nicht mehr wöchentlich schauen, sondern kann sich an einem verschwendeten Wochenende alles reinziehen. Wobei man dann natürlich auch mit Scham und Schuldgefühlen kämpfen muss. (lacht) Auf der anderen Seite kann man auch tief in die Geschichte eintauchen, vielleicht tiefer, als das bei einem Kinofilm möglich war. Serien zu streamen ist eher, wie ein Buch lesen. Man kann sich entscheiden, wann man liest und wie lange. Man könnte zum Beispiel auch „Shining“ in drei Tagen runterlesen und total abtauchen. Und das kann man jetzt eben auch mit diesen vielen Serien machen. Es gibt die Publikation von Steven Johnson „Everything Bad is Good for You“. Er sagt, die medienpessimistische Argumentation „Wir amüsieren uns zu Tode“ stimmt so nicht. Stattdessen sind die Medien immer anspruchsvoller und schlauer geworden, die Narrative immer herausfordernder.
Gibt es eine Erklärung für diese Entwicklung?
Das hängt auch mit Technologien und der Marktstruktur zusammen, mit den Angebotsmöglichkeiten, dem DVD-Markt, mit dem Angebot an Streamingdiensten. Die Narrative wurden immer komplexer, weil versucht wurde, dadurch das Publikum stärker zu binden. Ich will den Zuschauer ja nicht nur für drei Stunden, sondern ich will ihn für drei Jahre. Deshalb muss man auch anders erzählen und hat nicht mehr die alte Erzählstruktur wie bei Star Trek – eine Folge, ein Abenteuer – sondern man hat eine ganze Staffel oder narrative Bögen über Staffeln hinweg. Wo man in Folge acht erst versteht, was in Teil zwei angedeutet wurde und dann vielleicht auch Sachen mehrfach schauen muss.
Wie schaffen die Serien und Anbieter es, uns immer zum Weiterschauen, zum „Bingen“, zu bewegen?
Es gibt ein altes Phänomen, das nennt sich Aufmerksamkeitsträgheit. Wenn wir im Fernsehen zehn Sekunden irgendwo hinschauen, dann steigt die Wahrscheinlichkeit dramatisch, dass wir nicht mehr wegschalten. Und wenn wir zehn Sekunden weggeschaut haben, dann steigt die Wahrscheinlichkeit dramatisch, dass wir nicht mehr zurückkommen. Wir sind in unserer Aufmerksamkeitszuwendung träge, wenn wir etwas angefangen haben, bleiben wir kleben. Und wenn Sie natürlich so eine Struktur haben wie bei „The Crown“, ist es vorbei. Der Abspann hat noch gar nicht richtig angefangen, da wird schon die nächste Folge angeliefert. Vielleicht ist noch ein Cliffhanger dabei. Da müssen Sie weiterschauen! Das führt natürlich dazu, dass man mehr Zeit dort verbringt, als man vielleicht eingeplant hat. Das ist wie beim Knabbern. Ich wollte ja eigentlich nicht die ganze Chipstüte leeressen. Und dann? Wenn es gut schmeckt, geht es weiter. Und danach habe ich Bauchschmerzen.
Warum kommen komplexere Erzählungen bei uns so gut an?
Vieles von dem, was wir können, können wir, weil wir soziale Lebewesen sind. Ab vier Jahren entwickelt man zum Beispiel eine Fähigkeit, andere so zu lesen, dass man weiß: Sie haben auch einen Geist, eine Seele – so wie ich. Wenn Sie das nicht können, können Sie auch eigentlich kein Fernsehen schauen oder Bücher lesen. Es gibt zum Beispiel Pinker (Steven Pinker, US-amerikanischer Psychologe und Linguist, Anm. d. Red.), der sagt, Bücher und Medien sind Empathiemaschinen. Sie erzeugen in uns Empathie für andere. Und sie haben auch viel dazu beigetragen, dass unsere Welt friedlicher geworden ist, weil man sich dadurch vorstellen kann, wie es in anderen Ländern oder in anderen Köpfen zugeht. Das machen Erzählungen und natürlich das Fernsehen auch. Es bietet diese Einfühlungsmöglichkeiten in alle möglichen Lebenszusammenhänge und -welten. Man kann aus den Geschichten viel über die Welt lernen und muss nicht alle Erfahrungen selbst machen. Es ist zugleich aber auch ein riesiges Manipulationsangebot im Guten wie im Schlechten. Sie können für alle möglichen Gruppen Verständnis erzeugen, Sie können aber auch Unruhe und Hass schüren, indem sie Geschichten erzählen. Wir mögen aber auch Krimis, weil sie wie Gehirnjogging sind. „Wer hat was gemacht?“ „Wo ist das Motiv?“ „Wieso sagt der das jetzt?“ Das sind logische Knobeleien auf einer Art sozialem Schachbrett. Sie zu lösen ist etwas, das wir unheimlich faszinierend finden. Fernsehen, Geschichten in Büchern oder auch das Theater sind wie eine Muckibude für die Hirnwindungen.
Kann man denn gleichsetzen, ob man sich eine Fernsehserie anschaut oder ein Buch liest?
Da streitet sich die Wissenschaft. Es gibt eine neue Studie, die sagt, es macht einen Unterschied, ob ich etwas lese oder ob ich es als Film sehe – weil die Anstrengung beim Buch höher ist. Ich muss mir alles vorstellen und die Welt im Kopf entwickeln. Also muss ich mehr investieren und gehe tiefer in die Verarbeitung. Aber die Frage ist, was ist denn das Vergleichsstück auf der Medienseite? Wenn Sie im Vergleich zu einem Buch „Mulholland Drive“ nehmen, also etwas, das auch vom visuellen Narrativ herausfordernd ist, dann würde ich sagen, schrumpft dieser Unterschied zusammen.
Das hat sich jetzt alles sehr positiv angehört. Was könnten denn Fallstricke beim Serienkonsum sein?
Also ein Aspekt sind die parasozialen Beziehungen. Das heißt, wir bauen soziale Beziehungen zu den Serienfiguren auf und begehen auch soziale Interaktionen, etwa dass wir uns wegducken, wenn unser Protagonist geschlagen wird. Es gibt viele Anekdoten. Jemand in der „Lindenstraße“ kriegt ein Kind und die Schauspieler bekommen Babywäsche geschickt. Das andere sind diese eskapistischen Geschichten, dass wir in eine andere Welt eintauchen und nicht mehr in der eigenen Welt sind und dass sich die Welten dann natürlich auch vermischen. Mir ging das bei „Herr der Ringe“ so. Als es vorbei war und die Hobbits übers Wasser gesegelt sind, war ich traurig und dachte: „Jetzt sind sie alle weg und es gibt keinen weiteren Teil mehr und ich darf sie nicht mehr sehen.“ Das ist wie ein Trennungsschmerz.
Was ja eindrücklich zeigt, wie selbst eine erfundene Fantasy-Geschichte auf uns wirkt.
Aus der evolutionären Perspektive ist das natürlich ein Riesenvorteil für unsere Spezies, dass wir uns Geschichten erzählen können. Es gibt wahrscheinlich keine andere Spezies, die das macht. Wenn wir keine Primaten wären, die in sozialen Verbänden leben, dann hätten wir auch nicht diese Geschichten. Von daher haben wir Geschichten, die zu uns als Spezies passen, in denen wir für die Spezies typische Probleme immer wieder durchkauen und versuchen, Lösungen zu finden. Das sind alte Dauerbrenner in neuem Gewand.
Heißt das, es gibt eine Struktur, nach der sich alles wiederholt? Sind alle Geschichten im Grunde genommen gleich?
Es gibt die ganz einfache Geschichte mit Anfang, Mitte, Höhepunkt und Schluss, aber das finde ich nicht so erhellend. Es gibt aber auch eine Publikation „Der Heros in tausend Gestalten“ von Joseph Campbell, der versucht hat, aus den Mythologien der unterschiedlichen Kulturen die Essenz herauszukochen. In der Vorlesung saß damals George Lucas. Und das, was Campbell gesagt hat, hat George Lucas in „Star Wars“ umgesetzt: die Essenz aller Mythologien in der Science-Fiction-Erzählung. Christopher Vogler hat daraus ein Buch für Drehbuchautoren gemacht. Das ist „The Writers Journey“. Das ist ein Phasenzirkel: Es gibt einen Held, es gibt den Ruf zum Abenteuer. Und es gibt den Mentor, es gibt archetypische Figuren und bestimmte Phasen, die der Held durchlaufen muss. Er bricht auf, muss durch ein Abenteuer durch und am Schluss kommt er wieder nach Hause. Ich glaube, dass Geschichten schon eine Art von wiederkehrender Strukturiertheit haben, aber ob jetzt die Campbell-Geschichte der Klassiker ist? Aber ich würde nicht sagen, dass es eine beliebige Varianz gibt und man alles erzählen könnte. Ich glaube, es hat viel mit Emotionen zu tun. Wenn die Geschichten nicht um soziale Phänomene gehen, funktionieren sie nicht gut.
Gibt es einen aktuellen Trend bei den Zuschauern?
Was ich gerade in den letzten paar Monaten interessant finde, ist die „Morbid Curiosity“ – also unsere Begeisterung für das Morbide. Gerade bei Netflix und bei anderen Streaminganbietern sind wieder Serientäter angesagt. Es gibt immer wieder diese Begeisterung für dunkle Charaktere. Frank Underwood in „House of Cards“ ist ja besonders perfide. Er bringt am Anfang den Hund um und schaut in die Kamera und erklärt, warum er das gerade gemacht hat. Man bekommt als Zuschauer einen Schreck, weil man eine Beziehung mit dem Bösen hat. Dafür gibt es eine nette Erklärung: Bei vielen Tieren ist es so, dass sie ihre Feinde beobachten. Zebras gehen in die Nähe von Löwen, wenn gerade keine Gefahr droht, und schauen sich an, was die Löwen machen. Das tun sie, um gut abschätzen zu können, wo die Gefahr lauert. Wir beschäftigen uns mit düsteren Dingen im weitesten Sinne, weil wir uns erhoffen, dadurch Bedrohungen besser einschätzen zu können. Andere Menschen sind für uns natürlich nicht nur Freunde, sondern auch Feinde. Deswegen finden wir böse, undurchsichtige Charaktere besonders spannend, gerade wenn sie sich nicht ganz erschließen lassen. Das steckt natürlich auch im „Tatort“ drin, wenn man versucht, den Mörder zu verstehen.
Können Sie selbst überhaupt noch Filme und Serien schauen, ohne permanent zu analysieren?
Das ist wie bei einem Schreiner, dem fällt auch nur auf, wenn die Treppe besonders schlecht oder besonders gut geschnitzt ist. Aber wenn wirklich etwas besonders toll gemacht ist oder ganz schlecht, dann springt man aus dem involvierten Rezeptionsmodus und geht in einen analytischen und sagt: „Wie haben sie das denn gemacht?“ Ich weiß zum Beispiel beim Tatort: Der Mörder ist wahrscheinlich gut besetzt. Wenn also einer auftaucht und das ist ein namhaftes Gesicht, dann ist er bei mir gleich unter Verdacht.