Es fing alles ganz unschuldig mit (Online-)Videotheken an. Doch das Angebot der Streamingdienste ist mittlerweile so groß, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie sich durchsetzten.
Es kann leicht in Vergessenheit geraten, dass Eckhard Baum im Jahr 1975 für eine Revolution verantwortlich ist: Der Unternehmer eröffnet in Kassel die erste Videothek der Welt. Somit sorgt sein „Film-Shop“ mit dafür, die Sehgewohnheiten von Film- und Serienliebhabern drastisch zu verändern. Einen ähnlichen Einschnitt stellt der Siegeszug der Streamingdienste dar. Diese treiben die Bequemlichkeit aber nur auf die Spitze. So muss man für die fast 5.000 Videotheken, die es 1983 in Deutschland gibt, auf jeden Fall noch das Haus verlassen, um eine VHS-Kassette auszuleihen oder zurückzubringen. Wenn man Videoabende mit Freunden verbringen will, muss man ebenfalls raus – und gegebenenfalls vorher noch im Supermarkt vorbei, um Chips und Cola zu holen.
Heute kann man fast alles von der Couch aus machen, meist mit Fernbedienung oder App. Smart-TV einschalten oder den normalen Fernseher per Amazon Fire TV Stick zum Quasi-Smart-TV machen. Auswählen zwischen einem der Streaminganbieter und aus einem schier unüberschaubaren Angebot an Filmen, Miniserien, Dokumentationen, True-Crime-Formaten und natürlich vor allem Serien. Die Streamer bieten die Möglichkeit, Freizeit flexibel zu halten und auch mal einem Film oder einer Serie eine Chance zu geben, den oder die man im Kino oder im linearen Fernsehen nie angeschaut hätte. Wie sehr sich dieses Angebot durchgesetzt hat, dürfte sich an der Zahl der Videotheken ablesen lassen. Laut Statista waren es 2008 – nach rund zehn Jahren kommerziellem Internet – immerhin noch 2.920. Bei der letzten Erhebung 2019 waren es nur noch 345 plus vier Automatenvideotheken.
Online-Videotheken als Vorläufer
Als Vorläufer der Streamer dürften die Online-Videotheken zählen, von denen es 1998 die erste in den USA gab. Ein Jahr später wurde rent-a-dvd.de in Deutschland gegründet, was seit 2001 unter verleihshop.de firmiert und bis heute eine der größten Online-Videotheken Deutschlands ist. Das Vorgehen ist gleichgeblieben: Zuerst Videobänder, später DVDs und Blu-rays, werden online bestellt und dann per Post verschickt. Ein Unternehmen, das bereits früh am Start ist, ist Lovefilm. 2003 gegründet, startet es als Online-Verleih, wird später Video-on-Demand-Anbieter, dann von Amazon gekauft und verschmilzt 2014 schließlich mit dem Amazon-Prime-Angebot zu Amazon Instant Video, dem heutigen Prime Video.
Amazon selbst startet seine eigene On-Demand-Plattform 2006. Nach der erwähnten Übernahme schaltet der Konzern sein Angebot 2016 weltweit frei – bis auf wenige Ausnahmen wie Nordkorea oder Syrien. 2018 hat Prime nach eigenen Angaben 100 Millionen Kunden weltweit, drei Jahre später bereits 200 Millionen. Tagesschau.de berichtet, dass 2019 in Deutschland rund 17 Millionen Haushalte ein Prime-Konto haben – fast die Hälfte aller 41 Millionen Haushalte.
Der größte Streamer Netflix wird schon 1997 in Los Gatos in Kalifornien gegründet. Auch dieses Unternehmen startet als Online-Videothek, steigt 2007 ins On-demand-Geschäft ein und hat heute nach eigenen Angaben weltweit 221,64 Millionen bezahlte Abonnements, in Deutschland rund zehn Millionen. An dritter Stelle weltweit steht Disney+. Online geht der Dienst im November 2019, seit März 2020 steht er in Deutschland zur Verfügung. Bereits im Dezember 2020 gibt der Konzern bekannt, dass weltweit 85 Millionen Abos abgeschlossen wurden.
Bereits die erste eigene Produktion von Netflix darf als bahnbrechend gelten. Die 13 Folgen der ersten Staffel der politischen Dramaserie „House of Cards“ werden 2013 am gleichen Tag veröffentlicht – ein Bruch mit dem bisherigen Serienablauf. Die Staffeln waren für das lineare Fernsehen so konzipiert, dass sie Zuschauer über gut ein Jahr mit um die 20 Folgen an den TV binden sollten. Durch die veränderte Darbietungsform des Streamings kann man komplexen Handlungssträngen und Figuren besser folgen und die Serien am Stück durchschauen, obwohl auch in den 90er-Jahren Erfolge wie „Akte X“, „Die Sopranos“, „Lost“ oder „Twin Peaks“ bereits Erzählstränge über mehrere Folgen gelegt oder gar eine durchgehende Handlung hatten.
Besonders Netflix ragt heraus mit Projekten wie „The Irishman“, der für zehn Oscars nominiert wird, aber zu Recht keinen davon gewinnt. Besser läuft es für „Roma“, der drei der Goldstatuen einheimst, darunter eine für Alfonso Cuarón als Bester Regisseur. Gleichzeitig haut der Dienst zahlreiche Comedy-Specials mit Kontrovers-Humor-Granden wie Ricky Gervais oder Dave Chappelle raus. An Serien mangelt es ebenfalls nicht. Zur Speerspitze zählen „Squid Game“, „Haus des Geldes“ und „Stranger Things“, was sich in 1,65 Milliarden Streaming-Stunden beziehungsweise 792,2 Millionen und 621,8 Millionen (Stand: Juni 2022) sowie bislang 19 Emmys für die drei genannten Serien widerspiegelt.
Amazon hinkt hinterher, erregt aber immer wieder Aufsehen. Etwa mit der schwarzhumorigen und blutigen Superheldensatire „The Boys“. Weitere Eigenproduktionen wie „Good Omens“, „Reacher“ oder „Die Discounter“ sind trotz teils hoher Budgets und sehr guter Kritiken noch nicht im kollektiven Gedächtnis verankert. Besser läuft es bei Comedys wie „Fleabag“ oder „LOL: Last One Laughing“. Bei „The Boys“ zeigt sich, dass sich die Streamer in Sachen Ausstattung, Effekte und Produktionsdesign nicht hinter den großen Hollywoodstudios zu verstecken brauchen. Es darf aber bezweifelt werden, dass die Drastik von „The Boys“ oder „House of Cards“ in großen Studiofilmen oder auf privaten, geschweige denn öffentlich-rechtlichen Sendern so durchgegangen wäre. Und gerade eben hat Prime die teuerste Serie aller Zeiten abgeliefert: Für die neue „Der Herr der Ringe“-Adaption greift man tief in die Tasche und veranschlagt für fünf Staffeln die Megasumme von einer Milliarde Dollar.
Es geht um neue Abonnements
Es zeigt sich jedoch die Problematik, dass die Streamingdienste den Erfolg von Serien anders bewerten als frühere Produzenten. Im Gegensatz zu Fernsehsendern kaufen sie die Serien nicht ein, um Einschaltquoten zu erzielen und Werbeplätze zu verkaufen. Bei Netflix und Co. geht es um neue Abos. In der Regel liegt der Streamer-Reiz in immer neuen, exklusiven Formaten. Immer wieder zeigt sich auch, dass die Dienste sich nicht wirklich Gedanken darüber machen, was sich Fans wünschen, sondern Serien schnell wieder absetzen, bevor sich eine echte Fanbasis bilden kann. Denn es muss direkt zum nächsten Durchstarter gehen, der bei Instagram gerade trendet – ein Spiegel des Zeitgeistes.
Heute gibt es Streamingdienste für jeden Geschmack. Mag beispielsweise das im Abo enthaltene Angebot bei Prime geringer sein als das bei Netflix, bietet Amazon doch den Vorteil, noch sehr viele Titel dazubuchen zu können oder auch Spartenkanäle zu abonnieren, etwa für Horror- oder Arthaus-Fans. Wow (ehemals Sky Ticket) bietet jede Menge aktuelle Blockbuster. Disney+ punktet mit seinem Familienangebot und dem Melken der „Star Wars“- und Marvel-Reihen mit zig Serien. Magenta TV hat viele deutsche Produktionen. Joyn als Nachfolger von Maxdome zeigt werbeunterstützt das Programm von Nischensendern wie Dmax, Sixx oder Kabel eins Doku, die Mediatheken von unter anderem Pro Sieben und Sat1 und im Bezahlbereich Joyn Plus zeigen eigene Produktionen wie die Miniserie „Blackout“ oder die dritte und vierte Staffel von „jerks“.
Der Erfolg der Streamingdienste ist auch ARD und ZDF nicht verborgen geblieben. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen und Radio orientiert sich bei Handhabung der Mediatheken an den großen Vorbildern und bietet online ebenfalls exklusive Inhalte an. So ziemlich jeder private Fernsehsender macht dies ebenso. Bei Eurosport kann man Randsportarten wie Snooker schauen, Dazn zeigt das volle Fußballprogramm. Realeyz zeigt Asia-Kino, Netzkino macht es sich an der Schnittstelle von Mainstream und Arthaus bequem. Es fällt schwer, den Überblick zu behalten, doch der Vergleich lohnt sich – es gibt einiges zu entdecken.