Mit „The Sopranos“ fing 1999 alles an. Dann kamen Serien wie „24“, „The Wire“, „Breaking Bad“, „Game of Thrones“, „House of Cards“. Es fand ein Paradigmenwechsel statt, und auch für Darsteller und Regisseure wurden Serien plötzlich interessant.
Washington, D.C. nachts. Ein lauter Knall. Glas splittert. Ein Hund jault. Jemand gibt Gas. Fahrerflucht. Eine Tür geht auf. Kevin Spacey eilt zur Unfallstelle. „Es gibt zwei Arten von Schmerz. Der eine macht dich stärker. Der andere ist sinnlos“, spricht er als Frank Underwood in die Kamera. Und bricht dem verletzten Hund mit bloßen Händen das Genick. Das ist die schockierende Anfangssequenz der Kult-Serie „House of Cards“ (2013).
„Nie im Leben hätten die Schlipsträger der großen TV-Studios, bei denen ich meine Serie natürlich zuerst vorgestellt hatte, diese Szene drin gelassen“, amüsierst sich Regisseur David Fincher. „Nicht so bei Netflix. Als ich ihnen ‚House of Cards‘ anbot, sagte ich, dass ich auf keinen Fall – wie beim Fernsehen üblich – nur einen Pilotfilm drehen würde, an dem sie dann herummäkeln könnten. Ich machte ihnen klar: Sie kriegen die ganze Staffel – oder gar nichts! Sie sagten: ‚David, das können wir nicht machen.‘ Ich sagte: ‚Okay, dann lassen wir es.‘ Und sie: ‚Nein, du hast uns falsch verstanden – wir brauchen mindestens zwei Staffeln!‘ Von da an waren wir die besten Freunde.“ Für David Fincher, der mit Kinofilmen wie „Seven“ und „Fight Club“ zum Kult-Regisseur avancierte, wurde Netflix zum neuen Hafen. Sein Biopic „Mank“ (2020) wurde von Netflix produziert, ebenso sein neuer Film „The Killer“ (2023).
Immer mehr Kinostars wenden sich der Serie zu
„Netflix, Amazon und Co. sind für uns Filmemacher wirklich ein Segen,“ meint Alfonso Cuarón („Gravity“), der 2019 für seinen Netflix-Film „Roma“ mit drei Oscars (darunter für den Besten Film) ausgezeichnet wurde. „Mittlerweile sind es nicht die klassischen Hollywoodstudios, sondern die Streamingdienste, die kreative und innovative Filmemacher unterstützen. Und offen sind für neue Erzählweisen und den Mut haben auch kontroverse Themen zuzulassen.“ Also ist es keine Überraschung, dass Alfonso Cuaróns neue Thriller-Serie „Disclaimer“ mit Cate Blanchett und Kevin Kline nächstes Jahr bei Apple TV zu sehen sein wird. Ein weiteres Plus der Streamingdienste ist die Bereitschaft, auch sehr kostspielige Serien und Filme zu finanzieren. Martin Scorseses Meisterwerk „The Irishman“ (2019) war zum Beispiel allen Hollywoodstudios zu teuer und wurde schließlich von Netflix realisiert. Und Amazon ließ sich zehn Episoden von „Die Ringe der Macht“ (2022) eine schlappe Milliarde Dollar kosten (siehe auch Serientipp auf Seite 80).
Selbst Regisseure, die lange Zeit ihre Filme nur auf der Kinoleinwand zeigen wollten, haben längst ihre Meinung geändert, darunter Steven Soderbergh („The Knick“, 2014), Spike Lee („Da 5 Bloods“, 2020) oder Jane Campion („The Power of the Dog“, 2021). Und sogar ein erklärter Streaming-Kritiker wie Steven Spielberg hat kürzlich einen Vertrag mit Netflix unterzeichnet, in dem er sich verpflichtete, jährlich mehrere Filme für die Plattform zu produzieren. „Das ist eine fantastische Möglichkeit, zusammen neue Geschichten zu erzählen und Zuschauer auf neuen Wegen zu erreichen“, so der Regisseur. Gerüchten zufolge will nächstes Jahr auch Quentin Tarantino ins Serien-Geschäft einsteigen, bevor er seinen zehnten und letzten Kinofilm dreht.
Längst hat im Film- und Seriengeschäft ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Das traditionelle lineare Fernsehen mit dem starren – oft anscheinend nur noch für Zuschauer im Wachkoma produzierten – Programmangebot hat in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung verloren. Und das inzwischen durchmarvelisierte Hollywood schlingert immer ärger(licher) zwischen Bombast-Movies und Kitsch-Kino hin und her. Wo sind eigentlich die anspruchsvollen Arthouse-Filme abgeblieben? Kein Hollywood-Regisseur oder -Schauspieler muss einen Image-Schaden befürchten, wenn er dorthin geht, wo es wirklich rockt – nämlich zu Netflix und Co.!
Wie zum Beispiel Billy Bob Thornton („Monster’s Ball“). „Früher hat man Fernsehen nur gemacht, wenn man sehr jung war und ins Filmbusiness einsteigen wollte. Die TV-Serien waren bloß das Sprungbrett nach Hollywood – oder das Gnadenbrot für abgehalfterte Movie-Stars. Das hat sich sehr verändert. Heutzutage wechseln Hollywoodstars munter hin und her. Mich haben damals viele meiner Schauspieler-Freunde mit der Frage gelöchert, wie ich es geschafft habe, in einer so coolen Netflix-Serie wie ‚Fargo‘ eine Hauptrolle zu ergattern. Die gäben ihre rechte Hand für eine Rolle in Serien wie ‚True Detective‘ oder ‚Game of Thrones‘“, meint Billy Bob Thornton und fährt fort: „Was mich an diesen neuen Streaming-Serien fasziniert, ist die Möglichkeit, eine Geschichte ausführlich und mit einem dramatischen Bogen erzählen zu können.“
Serien bieten Raum für Qualität und Innovation
Auch Kiefer Sutherland, der zu Beginn der 90er-Jahre eine Reihe Kinohits hatte, wie „Young Guns“, „Flatliners“ oder „Eine Frage der Ehre“, hat Hollywood so gut wie abgehakt. Statt für mediokre Kinofilme seinen Kopf hinzuhalten, „war meine Rettung, dass man mich als Jack Bauer für die TV-Serie ‚24‘ besetzte. Das war für mich wie eine Wiedergeburt!“ Von 2001 bis 2019 spielte er in 192 Folgen der Echtzeit-Thriller-Serie – und wurde mit Preisen überhäuft.
Neu erfunden hat sich auch Oscarpreisträgerin Reese Witherspoon („Walk the Line“). Seit sie mit der Kultserie „Big Little Lies“ (2017 – 2019) neben Nicole Kidman, Alexander Skarsgård und Meryl Streep Furore machte, konzentriert sie sich mit ihrer Firma „Hello Sunshine“ fast ausschließlich auf das Produzieren von Serien, wie unter anderem „The Morning Show“. Und Nicole Kidman meint: „Ich bin immer auf der Suche nach interessanten Projekten, die mich – und hoffentlich auch die Zuschauer – aufrütteln. Um so dankbarer bin ich auch, wenn ich aus meinem Kino-Rollenklischee einmal ausbrechen kann. Und dazu habe ich fast nur noch bei den Streaminganbietern die Gelegenheit.“ Die Liste der Stars, die vom Kino zu Streaming-Serien oder -Filmen gewechselt haben, ließe sich noch lange fortsetzen: darunter George Clooney, Leonardo DiCaprio, Jennifer Lawrence, Brad Pitt, Sandra Bullock, Ryan Reynolds, Julia Roberts … Und man kann Billy Bob Thornton nur zustimmen, wenn er sagt: „Ich bin alles andere als ein TV-Junkie. Aber in Sachen Qualität, Innovation, Mut und erzählerischer Freiheit ist seit den ‚Sopranos‘ sehr viel Gutes nachgekommen.“