Steigende Flüchtlingszahlen erfordern einen Kraftakt vom Berliner Senat. Auf die Schnelle sollen die beiden früheren Flughäfen für die Unterbringung herhalten. Hilfsorganisationen kritisieren diese Form der Unterkünfte.
Wenn es draußen nicht gerade schneit oder regnet, stehen die Wäscheständer auf dem Rollfeld des ehemaligen Flughafens Tegel. Jogginghosen, T-Shirts und Kinderstrumpfhosen flattern im Wind. Geflüchtete aus der Ukraine haben sie dort aufgehängt. Seit März dieses Jahres wird der stillgelegte Airport als Ankunfts- und Aufnahmezentrum genutzt. Doch die landeseigenen Einrichtungen für die Aufnahme von Flüchtlingen in Berlin kommen immer mehr an ihr Limit. Von den 29.000 Plätzen in regulären Unterkünften des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) waren Ende November fast alle belegt. Weitere 10.000 Unterbringungsmöglichkeiten sind von Berlins Sozialsenatorin Katja Kipping (Die Linke) geplant.
„Unter Hochdruck“ laufe die Akquise von regulären Unterkünften weiter, heißt es seitens des LAF weiter. Auch die Anmietung von Kontingenten in Hostels finde statt. Die Sozialsenatorin hatte bereits Anfang November die zweite Stufe ihres Notfallplans ausgerufen. Katja Kipping hatte davor gewarnt, dass Flüchtlinge aufgrund fehlender Kapazitäten zur Unterbringung obdachlos bleiben könnten. Als vorübergehende Lösung brachte die Senatorin Zelt-Unterkünfte ins Spiel.
Einem Bericht des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB) zufolge laufe die Suche des Berliner Senats nach neuen Unterkünften bisher „sehr schleppend“. Von den 10.000 zusätzlichen Plätzen gebe es bisher nur etwa 1.000. Zuversichtlich aber gibt sich Katja Kipping, Berlins Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales. Sie erwarte, so sagte sie, dass die Unterbringung jetzt Fahrt aufnehme, weil wichtige Entscheidungen getroffen seien. Unter anderem soll noch vor Weihnachten ein weiterer stillgelegter Flughafen als eine temporäre Notunterkunft herhalten: der ehemalige Flughafen Tempelhof. Dort, in den Hangars 2 und 3, sollen zwischen 1.000 und 1.600 Männer, Frauen und Kinder unterkommen. Außerdem erwägt das LAF, in Flughafennähe Leichtbauhallen auf zwei Parkplätzen zu errichten. Diese könnten allerdings erst „gegen Ende Januar 2023“ in Betrieb gehen.
Täglich 300 neue Asylsuchende
Die Lage zum Jahreswechsel ist angespannt: Einerseits weil der Flüchtlingsstrom aus der Ukraine durch den russischen Einmarsch die Zahlen vervielfacht hat. Es steht zu befürchten, dass deren Anzahl besonders im Winter wieder stärker zunimmt als in den vergangenen Monaten. Andererseits ist auch die Zahl der Asylbewerber aus anderen Ländern im Verlauf des Jahres immer mehr gestiegen. Den Angaben des LAF zufolge stellten in den ersten neun Monaten 9.036 Menschen Asylanträge in Berlin. Hinzu kamen 816 Flüchtlinge, die über Sonderaufnahmeprogramme in die Stadt kamen. Dem gegenüber stehen 7.762 neue Asylbewerber im Jahr 2021. Allein im September sind knapp 2.300 Asylbewerber in Berlin angekommen. Davon blieben 1.828 Asylsuchende in der Hauptstadt. Diese Zahlen gehen aus einer Antwort auf die Anfrage der AfD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus hervor. Im Oktober hat sich der Zuzug noch weiter verstärkt. Etwa 100 Asylbewerber pro Tag seien im Oktober angekommen, hieß es vom Senat. Die meisten Asylsuchenden kommen aus Syrien, Georgien, Afghanistan und der Türkei.
Anfang des vergangenen Monats sprach Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) bereits von täglich 150 Asylbewerbern und 150 Ukrainern. Das entspreche dem Niveau von 2015. Die Sozialdemokratin erwartet, dass die Zahlen in den Wintermonaten weiter steigen. Das sieht auch Vanessa Höse, Sprecherin vom Berliner Verein Xenion, so: „Wenn man sich die Lage im Iran und in Afghanistan anschaut, ist zu befürchten, dass es in nächster Zukunft noch mehr Menschen gibt, die Schutz brauchen“, sagt sie im Gespräch mit FORUM. Xenion bietet traumatisierten Geflüchteten, Folter- und Kriegsopfern Unterstützung in Form von psychotherapeutischer Hilfe, sozialer Beratung und Begleitung. Unter anderem unterstützen die Mitarbeiter des Vereins auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.
Die prekäre Situation sorgt für Unmut. „Derzeit sinken die Standards bei der Unterbringung enorm“, kritisiert Vanessa Höse. „Die Menschen leben in Notunterkünften wie 2015“, sagt sie. Man habe keine Strukturen aufgebaut und die Peaks nicht aufgefangen. „Dabei muss man schnell reagieren, insbesondere bei vulnerablen Gruppen.“ Schon unter „normalen“ Bedingungen stelle das Leben in Sammelunterkünften eine große Belastung für Erwachsene und Kinder dar. Mit weiter sinkenden Standards werde die Situation schier unerträglich. Gemeinsam mit mehreren anderen Hilfsorganisation haben die Akteure von Xenion einen Brandbrief an den Berliner Innensenat gesandt: „Diese Art von Notunterkünften halten wir für völlig ungeeignet, um schutzsuchende Menschen unterzubringen“, heißt es in dem Schreiben. In solchen Massenunterkünften lasse sich nicht einmal ein Mindestmaß an Privatsphäre und individuellem Sicherheitsgefühl herstellen. „Auch Kinder- und Gewaltschutzkonzepte lassen sich dort kaum umsetzen.“ Stattdessen müsse die Anmietung von Wohnungen „mit allen verfügbaren Mitteln die allerhöchste Priorität haben“.
Ein Mindestmaß an Privatsphäre ist nicht gegeben
Belastend für geflüchtete Menschen und insbesondere für die bereits traumatisierten unter ihnen ist auch der Umstand, dass sie nach ihrer Flucht selten zur Ruhe kommen können, da sie oft von Unterkunft zu Unterkunft ziehen müssen. „Für die erfolgreiche Therapie einer Traumafolgestörung wird in der Theorie ein Sicherheitsgefühl vorausgesetzt, aber davon sind wir in der Praxis weit entfernt“, bemängelt Janina Meyeringh, die bei Xenion als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin tätig ist. Viele der unbegleiteten Kinder und Jugendlichen hätten bereits eine lange Odyssee hinter sich. Endlich angekommen in Berlin, müssten sie oft lange, manchmal Monate auf ihr Erstgespräch im Rahmen der Inobhutnahme warten und damit auch auf weiterführende Hilfen. Dieses Gespräch bei der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie ist die erste Weiche. Erst danach können Anmeldungen für Termine wie etwa für psychologische Untersuchungen erfolgen. Die meisten Jungen und Mädchen, die zu der Psychologin in die Sprechstunde kommen, stammen aus Afghanistan, Syrien, der Ukraine, der Türkei.
„Die Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge hat sich vervierfacht“, weiß die Diplom-Psychologin. Im letzten Jahr kamen 699 Kinder und Jugendliche in Berlin an, und in diesem Jahr waren es bis November 2.876 Minderjährige. „Die Situation ist gravierend und das System überfordert“, sagt Janina Meyeringh. „Es kann nicht sein, dass so etwas Basales wie Kinderschutz auf der Strecke bleibt. Kinderschutz müsste oberste Priorität sein.“
Die AkteurInnen bei Xenion sehen auch die politischen Rahmenbedingungen kritisch: „Uns wurden im letzten Jahr die öffentlichen Mittel massiv gekürzt“, sagt die Sprecherin Vanessa Höse. „Dadurch mussten wir Personal abbauen, obwohl damals schon klar war, dass wieder mehr Menschen flüchten.“ Jetzt sucht die Organisation wieder Mitarbeiter. „Wir sind am Rand unserer Kapazitätsgrenzen und platzen aus allen Nähten.“ Politische Kurzsichtigkeit hinsichtlich der Flüchtlingsströme kritisiert auch der Migrationsexperte und EU-Abgeordnete Erik Marquardt: „Man hat versucht, die Aufnahmekapazitäten möglichst klein zu rechnen.“ Resiliente Strukturen seien nicht geschaffen worden.