Neuer Stimmenfang – alte Gesichter. In Berlin ist das Werben für die Wiederholungswahl am 12. Februar angelaufen. Straßenwahlkampf im Winter ist wenig erbaulich, und die Umfragen lassen auch nicht viel Freude aufkommen.
Franziska Becker steht am zweiten Adventssamstag reichlich verfroren vor einer Shopping-Mall am Prager Platz ihres Wahlkreises in Berlin-Wilmersdorf. Aus den -2 Grad am Morgen sind unterdessen schon mal 1 Grad im Plus geworden. Der leichte Schneefall ist in Nieselregen übergegangen. Aus den Schneeflocken sind trübe, graue Pfützen geworden.
Diese Jahreszeit mit ihrer Witterung garantiert die mit Abstand schlimmste Form des Straßenwahlkampfes: die Wiederholung der Berliner Abgeordnetenhauswahl.
Es hat die 55-jährige SPD-Direktkandidatin im wahrsten Sinne des Wortes kalt erwischt. Doch kneifen gilt nicht, also hat sie schon mal angefangen mit dem Straßenwahlkampf, obwohl dieser eigentlich erst direkt nach Silvester offiziell startet.
„Na, bei der Ausgangslage für uns Sozialdemokraten kann man gar nicht früh genug mit dem Wahlkampf anfangen“, gibt sich Franziska Becker kämpferisch. Viel mehr bleibt ihr auch nicht übrig. Sie spielt damit auf das Wahlfiasko vom September vor einem Jahr an. Das wird vor allem den seit mehr als 20 Jahren regierenden Sozialdemokraten in der Hauptstadt in die Schuhe geschoben.
Immerhin stellte die SPD damals den Innensenator, letztlich verantwortlich für den Urnengang im September 2021. Andreas Geisel ist mittlerweile Bausenator und lehnt jegliche Verantwortung für die Wahl zur 19. Wahlperiode ab. Der „klebt an seinem Stuhl“, wie die Opposition im Abgeordnetenhaus schimpft.
SPD steht nach der letzten Wahl vor großen Herausforderungen
Diese politische Last bekommt auch seine Parteifreundin Franziska Becker im bürgerlichen Wilmersdorf hautnah zu spüren. Der SPD-Frau steckt die Zahl 19 in den Knochen. Zweimal hat sie ihren Wahlkreis direkt gewonnen, und am Wahlabend Ende September ging sie mit der Gewissheit zu Bett, diesen zum dritten Mal verteidigt zu haben. Doch aufgrund des sehr engen Ausgangs wurde in der Nacht auch in ihrem Wahlkreis noch mal nachgezählt. Am nächsten Morgen fehlten ihr dann plötzlich 19 Stimmen zum Direktmandat für das 19. Landesparlament der Berliner Nachkriegszeit. „Das Schlimme ist: Keiner kann wirklich sagen, ob die 19 fehlenden Stimmen real sind. Ich weiß ja gar nicht, wie viele meiner Wähler aufgrund der langen Schlangen und fehlenden Wahlzettel gleich wieder abgedreht und nach Hause gegangen sind.“
Genau das ist der Grund, warum der Landesverfassungsgerichtshof der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) diesen Wahlgang buchstäblich um die Ohren gehauen und Wiederholungswahlen angeordnet hat. Die SPD liegt dafür derzeit in den Umfragen auf Platz drei, hinter der CDU und den Grünen, allerdings alle im Bereich der 20-Prozent-Marke.
Wahlkämpferin Franziska Becker aus Wilmersdorf lässt trotz des trüben Wetters und der eher trüben Aussichten den Kopf nicht hängen. „Ich muss jetzt um meinen Wahlkreis kämpfen.“ Dazu bekam sie Schützenhilfe von ihrer SPD-Chefin und Regierenden Bürgermeisterin. Bereits vor dem absehbaren Verfassungsgerichtsurteil wurde ein Drei-Milliarden-Nachtragshaushalt für die Stadt verabschiedet. Damit werden „gute Dinge“, wie zum Beispiel das 29-Euro-Ticket für den ÖPNV in Berlin bis März finanziert.
Dazu kommt zum Beispiel auch eine Sonderpauschale für die 300.000 Berliner Ölheizungsbesitzer, nachdem diese auf Bundesebene bei den Energiepreisbremsen übersehen wurden. Wahlkampf-Futter für die Genossen an der Spree.
Direkte Konkurrentin zur regierenden SPD-Bürgermeisterin Giffey ist ihre Stellvertreterin und Verkehrssenatorin Bettina Jarasch (Grüne). Auch sie ist eine Art Unglücksvogel des Wahlabends vor über einem Jahr. Über Stunden sah es so aus, als würde Jarasch die nächste und damit erste Grüne Regierende Bürgermeisterin Berlins.
Doch dann verlor die 54-jährige Wahlberlinerin doch noch gegen ihre SPD-Konkurrentin. Auch Jarasch beschleicht das Gefühl, dass ihre Niederlage dem Umstand des Wahlchaos geschuldet sein könnte. Gut möglich, dass viele Grün-Wähler nach den ersten Prognosen und Hochrechnungen nach offizieller Schließung der Wahllokale die Schlange vor ihrem Wahllokal wieder verlassen haben. Die Grünen hatten zu diesem Zeitpunkt laut der ersten Berechnungen die Wahl gewonnen. Ein entscheidender Punkt, warum die Wahl wiederholt werden muss. Prognosen dürfen erst veröffentlicht werden, wenn alle Wahlgänge abgeschlossen sind, so die Berliner Verfassungsrichter in ihrem Urteil.
Die Aussichten für die Grünen bei der Wahlneuauflage Anfang Februar sind nicht schlecht, aber auch nicht wirklich gut. Zum einen bläst den Spree-Grünen der Bundestrend entgegen. Akw-Laufzeitverlängerung, Flüssiggas-Importe im großen Stil oder wieder hochfahrende Kohlekraftwerke verunsichern das Wahlvolk. Dazu kommt, dass die von Spitzenkandidatin Jarasch verkündete Verkehrswende auf erheblichen Widerstand ausgerechnet bei den eigenen Wählern stößt. Es ist nicht nur das Hin und Her um die autofreie Friedrichstraße, in der nun wieder Autos fahren dürfen. Ein medial bundesweit beobachtetes Spektakel, das für viel Unverständnis sorgte. Auch in den grünen Kiezen der Hauptstadt stößt sie bei ihrer eigenen Wählerklientel auf wenig Gegenliebe.
Wenn der Bundestrend nicht wäre, könnten die Grünen vielleicht siegen
Die ohnehin raren Parkplätze sollen entweder für Fahrradstraßen ganz verschwinden oder zukünftig vermehrt mit Fahr- oder Lastenrädern und sonstigen Gefährten zugestellt werden dürfen. Wenn grüne Wählerschichten ihren teuren Elektro-SUV nicht mehr in ihrer Wohnstraße parken können, hört der Spaß auf.
Auch die Hauptstadt-CDU mit ihrem Parteichef Kai Wegner steckt in einem Dilemma. Der 50-jährige ist das einzige Berliner Urgestein unter den Spitzenkandidaten und derzeit Oppositionsführer der Christdemokraten im Abgeordnetenhaus. Er will in diesem Wiederholungswahlkampf nun die rot-grün-roten Fehler klar benennen. Das ist ihm allerdings schon beim letzten Wahlkampf nur sehr mäßig gelungen. Wegner agiert anhand der aktuellen Umfragen obendrein etwas gehemmt. In Berlin wird es auch nach der Wahlwiederholung wieder eine Dreier-Koalition geben müssen. Also muss Wegner vor allem mit den Grünen im Wahlkampf sehr vorsichtig sein, zu viel Angriff könnte mögliche Koalitionsverhandlungen mit den Grünen unter Bettina Jarasch nur erschweren. Dazu bräuchte die CDU auch noch die FDP, wenn diese dann am 12. Februar überhaupt den Sprung ins Abgeordnetenhaus schafft. Derzeit liegen die Liberalen in Umfragen bei sechs Prozent.
Ein Problem der CDU: Ihre Wählerschicht ist wesentlich älter als bei den anderen Parteien. Kalt und nass, dazu möglicherweise Schnee hemmt dieses Klientel beim Urnengang. Doch nicht nur der CDU droht witterungsbedingt ein Mobilisierungsproblem. Auch die Voraussetzungen für Die Linken in der Hauptstadt sind nicht ideal. Die Bundespartei präsentiert sich nicht erst seit Monaten, sondern seit Jahren völlig zerstritten, und bei der Wiederholungswahl kommt bei der Linken nun noch das Problem der Spitzenkandidatur dazu. Sozialsenatorin Katja Kipping dominiert derzeit klar die Hauptstadt-Linke. Wenn die Partei mal in den Schlagzeilen der Berliner Tageszeitungen auftaucht, dann mit Kipping. Nur die steht nicht an der Spitze im Wahlkampf. Spitzenkandidat ist wieder Klaus Lederer. Der Kultursenator, der weder in der öffentlichen Wahrnehmung noch in der eigenen Partei richtig stattfindet.
Im Übrigen haben alle Parteien das Problem. Weil es eine Wahlwiederholung (und keine Neuwahlwahl) ist, müssen sich alle mit denselben Listen und Gesichtern wie bei dem ersten Wahlversuch dem Wählervotum stellen.