Viele von uns spüren sofort, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen. Aber können wir deshalb auch sagen, was gerecht ist? Oliver Hilt und Viola Risch diskutieren über den angeborenen Gerechtigkeitssinn, was Gesellschaft daraus macht und was das mit der Würde des Menschen zu tun hat.
Liebe Viola, lieber Oliver, wann habt Ihr euch zuletzt ungerecht behandelt gefühlt?
Viola Risch: Jeder kennt doch bestimmt die Situation, wenn die Eltern auf einen sauer werden, weil sie denken, man hätte etwas getan, wofür man eigentlich gar nichts kann. Vor ein paar Tagen war meine Mutter richtig wütend, und ich habe es abbekommen, obwohl meine Geschwister verantwortlich waren. Da habe ich mich ungerecht behandelt gefühlt. Weil ich wegen einer Sache angegangen wurde, für die ich gar nichts konnte.
Oliver Hilt: Die Frage ist gut. Ich muss ernsthaft darüber nachdenken, weil ich gelernt habe, mich über solche kleinen Ungerechtigkeiten des Alltags überhaupt nicht mehr aufzuregen. Was mich ärgert, sind Gespräche, die keine Gespräche mehr sind, weil ein Gesprächspartner einfach nur dominant seine eigene Meinung kundtun will und keinerlei Bereitschaft mehr zeigt, überhaupt zuzuhören.
Warum findest Du das ungerecht?
Oliver Hilt: Weil das zu nichts führen kann. Gerechtigkeit ist ja keine Frage, die für sich alleine steht, Gerechtigkeit beschreibt immer ein Verhältnis zwischen Menschen. Betrachtet man Gerechtigkeit in größerem Rahmen, könnte man noch das Verhältnis zu anderen Lebewesen und der Umwelt miteinbeziehen. Gerechtigkeit kann nur herrschen, wenn Interessen in einem fairen Ausgleich stehen. Der Versuch, eine Dominanz gegen etwas anderes durchzusetzen, führt automatisch zu Ungerechtigkeit.
Was ist für Dich Gerechtigkeit, Viola?
Viola Risch: Ich weiß gar nicht, ob man das in einem Satz zusammenfassen kann. Ich glaube Gerechtigkeit bedeutet einfach, dass jeder Mensch die gleichen Chancen hat und eine gewisse Art der Gleichbehandlung erfolgt. Also nicht, dass jeder genau gleich behandelt werden muss, aber dass jeder Mensch als gleichwertig anerkannt wird. Alles was mit Gerechtigkeit zu tun hat, basiert auf einem Grundsatz: der Würde des Menschen.
Oliver Hilt: Was mich fasziniert, ist: Wir haben alle so einen inneren Impuls, ein Gerechtigkeitsempfinden. Wir spüren, wenn wir uns ungerecht behandelt fühlen oder wenn Ungerechtigkeiten passieren. Also muss es so etwas wie eine Gerechtigkeit geben. Aber wir können nie sagen, was insgesamt gerecht ist. Wir können feststellen, was wir als ungerecht empfinden. Der Versuch, es positiv zu formulieren, führt zu einem Problem: Wir können Einzelfall-Gerechtigkeiten definieren, wie zum Beispiel Gendergerechtigkeit oder Generationengerechtigeit. Aber wenn wir gefragt werden: „Was ist Gerechtigkeit?“, dann fällt es uns schwer, das zu beschreiben.
Glaubt Ihr, dass ein Gerechtigkeitssinn angeboren ist oder anerzogen wird?
Viola Risch: Ich glaube, dass es sehr viel mit Erziehung, beziehungsweise Sozialisation zu tun hat. Je nachdem in welcher Region auf der Welt man lebt, hat man vielleicht andere Vorstellungen davon – allein kulturell gesehen – wie eine gewisse Menschengruppe zu behandeln ist. Nehmen wir die Geschichte, das antike Rom: Ich weiß nicht, ob ein Mensch damals Sklaverei als ungerecht empfunden hätte. Was heute hier ein absolutes Unding wäre, war damals normal. Von daher denke ich, dass das mit Kultur, Zeit und Region zu tun hat.
Oliver Hilt: Also da würde ich widersprechen. Die Verhaltensforschung zeigt, dass selbst Kleinstkinder, die sicherlich noch nicht ausreichend kulturell geprägt sind, nach allen Beobachtungen so etwas wie Gerechtigkeitsempfinden in ihrem Fall äußern können. Man glaubt festgestellt zu haben, dass es selbst in Tierpopulationen Verhaltensweisen gibt, die das, was wir Menschen Gerechtigkeit nennen, zum Ausdruck bringen. Wenn diese Forschungsergebnisse zutreffend sind, würde das bedeuten, es gibt einen angeborenen Impuls über Fragen der Gerechtigkeit. Und zwar Gerechtigkeit im Sinne von gewissen Gleichverteilungen. Wenn in Tierpopulationen ein großes Beutetier erlegt wurde, gibt es Mechanismen in der Gruppe, die dafür sorgen, dass auch die Schwachen der Gruppe etwas abbekommen. Die Geschwisterforschung wiederum zeigt, dass Kleinkinder einen ziemlich klar erkennbaren Impuls haben, wenn sie sich zurückgesetzt, also ungerecht behandelt fühlen. Das Interessante dabei ist: Dieser Gerechtigkeitsimpuls entsteht vor allem dann, wenn ich mich ungerecht behandelt fühle. Umgekehrt empfinde ich ihn aber nicht grundsätzlich, wenn ich mich dominant verhalte. Nur weil ich etwas für richtig halte, würde ich es nicht unbedingt als gerecht beschreiben wollen.
Viola Risch: Ich würde Dir zustimmen, dass man einen Gerechtigkeitsimpuls auch als sehr kleines Kind schon hat. Aber ich denke trotzdem, dass das etwas ist, was sich noch mal sehr stark weiterentwickelt. Zum Beispiel würde ich es als Kind als gerecht ansehen, jemanden zu schlagen, wenn er oder sie mir mein Spielzeug klaut. Aber, dass man sich mehr mit der Frage auseinandersetzt und so etwas wie einen Gerechtigkeitssinn entwickelt, würde ich schon eher als Teil der Sozialisation betrachten.
Oliver Hilt: Trotzdem noch mal anknüpfend an die Frage: Ja es gibt einen angeborenen Gerechtigkeitssinn. Wie der sich nachher sozusagen in der Operationalisierung einer Gesellschaft auslebt, ist kulturelle Prägung. Weil unterschiedliche Gesellschaften unter unterschiedlichen Lebensbedingungen unterschiedliche gesellschaftliche Vereinbarungen darüber entwickeln, wie sie das Zusammenleben organisieren. Und zwar so, dass im Idealfall jeder seine Rolle darin findet und dann diese Rolle auch in irgendeiner Form als gerecht empfinden kann.
Viola Risch: Gerechtigkeitsimpuls – wie gesagt – würde ich zustimmen. Die Frage ist nur: Ist das schon Gerechtigkeit? Denn als Kleinkind hat man – zumindest meiner Erfahrung nach, ich kann das jetzt nicht mit einer Studie belegen – eher einen Bezug auf sich selbst. Erst später entwickelt sich das, dass man anfängt, sich für andere einzusetzen, was ja eigentlich auch unter einen Gerechtigkeitssinn fallen würde. Deswegen würde ich bestreiten, dass wir den Sinn dafür, was gerecht ist und was nicht, wirklich angeboren haben.
Ist der Gerechtigkeitssinn in Bezug auf das Individuum vielleicht eine Überlebenssicherung?
Oliver Hilt: Ich glaube es spricht zunächst mal eine große Wahrscheinlichkeit dafür. Wobei der Hinweis von Dir richtig ist. Bei kleinen Kindern ist der Gerechtigkeitsimpuls natürlich nicht das, was wir Erwachsene in unseren Gerechtigkeitsdebatten formulieren. Allerdings könnte man dann auch fragen: Ist es ein Gerechtigkeitsimpuls oder ein Überlebensimpuls?
Viola Risch: Dann eher ein Überlebensimpuls, weil er ja zunächst ganz eigennützig ist und sich dann erst mit der Zeit auf andere Personen ausweitet. Wenn es nur um meine eigenen Gefühle oder meine eigene Versorgung geht, kann ich ja nicht von Gerechtigkeit sprechen. Da gehört noch mehr dazu. Es ist nicht gerecht, nur weil mich jemand gerecht behandelt.
Könnte man also sagen, der Überlebensinstinkt wurde kultiviert?
Oliver Hilt: Klar. Deshalb sage ich ja: Gerechtigkeit ist eine Frage der Beziehungen untereinander. Würde ich alleine auf der Welt leben, bräuchte ich mich mit dem Thema Gerechtigkeit nicht auseinanderzusetzen. Das brauche ich erst in Gemeinschaft. Unsere heutigen Diskussionen über die Frage nach Gerechtigkeit sind kulturelle, gesellschaftliche und soziale Fragen. Insofern sind diese Fragen entstanden, weil der Mensch nur in Gemeinschaft überlebensfähig ist. Die Frage der Gerechtigkeit ist also die Frage danach, wie ich als Gesellschaft das Überleben der Menschen sichere.
Wer entscheidet, was gerecht ist?
Viola Risch: Das kommt darauf an. Es gibt super viele Teilgerechtigkeiten. Und es kann niemand bestimmen, was gerecht ist und was nicht. Das wäre eine Diktatur. Das kann niemand festlegen, weil niemand alle Bedürfnisse kennt. Wenn es zum Beispiel um eine marginalisierte Gruppe geht, weiß nur diese Gruppe, was ihre Bedürfnisse sind und wo Grenzen überschritten werden. Und das ist der Punkt, wo diese Gruppe darauf hinweisen kann, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt. Und wenn das jeder macht – aber auf eine zivilisierte Art und Weise, so, dass man miteinander reden kann – dann kommen wir dem am nächsten, was man als „Gesamtgerechtigkeit“ bezeichnen könnte, wenn wir dann diese Teilgerechtigkeiten zu einem großen Ganzen zusammensetzen.