Schon lange tobt ein Kampf um Geschlechtergerechtigkeit. Eine Bewegung, die einst mit Frauen begann, ist mittlerweile so vielseitig wie ihre Themen selbst. Doch auch im Feminismus scheiden sich die Geister.
Feminismus hat sich verändert. Und seine Vorstellung davon, was gerecht ist auch. Die feministische Bewegung hat erkannt, dass sie ihren Prinzipien nicht treu bleiben kann, wenn sie sich länger ausschließlich auf Frauen fixiert. Denn wer sind überhaupt „die“ Frauen? Und woran lässt sich Geschlecht überhaupt festmachen? Der Feminismus ist im Sinne seiner Überzeugung dazu gezwungen, genau hinzusehen, wie die Lebensrealitäten von diskriminierten Personen aussehen und wie sie sich von anderen unterscheiden. Schon lange geht es bei der feministischen Gerechtigkeit nicht mehr pauschal um „Frauen-Probleme“.
Die feministische Bewegung war noch nie homogen und schon immer bestand sie aus verschiedenen Strömungen, deren Interessen teilweise sogar konkurrieren. Die Frage, was „feministische Gerechtigkeit“ ist, lässt sich per Definition genauso wenig festmachen, wie die Frage, was gerecht ist. Es geht um Geschlechtergerechtigkeit. Zumal dieser Begriff möglicherweise weniger Aversion auslöst als das Schlagwort „Feminismus“. Ganz so ohne Weiteres übernehmen kann man ihn allerdings nicht.
Feminismus hat viele Facetten
Ina Kerner, Professorin für Politische Wissenschaft am Institut für Kulturwissenschaft der Universität Koblenz-Landau, beschreibt in einem Text über Perspektiven für einen neuen Feminismus seine lange Geschichte. Zur Zeit der ersten Frauenbewegung im 18. Jahrhundert kämpften Frauen um grundlegende Bürgerrechte: Sie wollten wählen, zur Uni gehen und den gleichen Lohn wie Männer. Die zweite Frauenbewegung in den 1970er-Jahren wollte mehr. Sie forderte nach wie vor gleichen Lohn für gleiche Arbeit, Entlohnung für Hausarbeit, eine bessere Kinderbetreuung aber auch das Recht auf Abtreibung, sexuelle Befreiung und die Thematisierung sexueller und häuslicher Gewalt. Beispielsweise war bis 1997 Vergewaltigung in der Ehe per Gesetz noch nicht strafbar.
Die Frage nach der Befreiung der Frau aus dem Patriarchat hing unmittelbar mit der Frage zusammen, welche Rollen den Geschlechtern bis dato in der Gesellschaft zugewiesen wurden. Zwei lautstarke Strömungen innerhalb der Debatte sind der „Gleichheitsfeminismus“ und der „Differenzfeminismus“. Noch heute streitet man sich über die Frage, ob die Betonung der Gemeinsamkeiten oder der Unterschied der Geschlechter zu mehr Gerechtigkeit führt. So sieht der Gleichheitsfeminismus das Problem vor allem in den Strukturen der Gesellschaft, die stereotypisierte Geschlechterbilder reproduzieren, und fordert eine totale Gleichstellung der Frau. Der Differenzfeminismus dagegen vertritt die Auffassung, Unterschiede zwischen den Geschlechtern seien nicht nur biologischer Art. Er plädiert dafür „typisch weibliche Eigenschaften“, wie beispielsweise „Mütterlichkeit“ oder „Fürsorglichkeit“ gesellschaftlich aufzuwerten, beispielsweise durch die Bezahlung von „Care-Arbeit“ (Pflege, Kinderbetreuung).
Petra Stein, Mitarbeiterin für Öffentlichkeitsarbeit der „Frauen Gender Bibliothek Saar“, hat dazu folgende Meinung: „Menschliche Eigenschaften ergeben sich durch die Kombination von Genetik, Biologie und sozialem Einfluss. Diese soziale Prägung wirkt sehr stark und oft auch unbewusst. Meiner Meinung nach sollten wir die Menschen geschlechtsunabhängig mit ihren individuellen Eigenschaften und Talenten annehmen und sie in möglichst wenig stereotype Vorerwartungen hineinzwängen.“
Die französische Feministin Simone de Beauvoir wurde berühmt für den Satz: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“ Damit wollte sie ausdrücken, dass „Weiblichkeit“ und das, was man bis heute damit verbindet, lediglich soziale Konstrukte sind. Das bedeutet, die Gesellschaft entscheidet, was eine Frau zu einer Frau macht und wie sie sich als Frau zu verhalten hat. Um genau zu sein, entschieden das lange Zeit Männer. Aus Simone de Beauvoirs berühmtem Satz entwickelte sich so die Theorie von „Sex“, dem biologischen Geschlecht, und „Gender“, den kulturellen Merkmalen, die damit verbunden werden.
Judith Butler, eine US-amerikanische Philosophin, wurde bekannt durch ihr 1990 veröffentlichtes Buch „Gender Trouble“. Darin erklärt sie die Zwangsordnung von Sex, Gender und Begehren. Demnach war die gesamte Gesellschaftsordnung lange Zeit auf das Kinderkriegen ausgerichtet, weshalb vor allem Frauen auf ihr biologisches Geschlecht reduziert wurden. Die Ansicht, es gäbe lediglich zwei Geschlechter, nämlich Mann und Frau, die sich auf „natürliche“ Weise zueinander hingezogen fühlen, galt im Sinne der Reproduktion als „normal“. Hier spricht man auch von „Heteronormativität“. Dementsprechend galten Homosexualität oder auch Trans-, Inter-und Bisexualität als „abnormal“. Butler erklärte erstmals, dass Institutionen und Machtstrukturen innerhalb einer Gesellschaft so angelegt sind, dass heterosexuelle Menschen Vorteile haben. Deswegen konnten sich viele Lesben innerhalb der feministischen Bewegung nicht mit den Diskriminierungserfahrungen heterosexueller Frauen identifizieren.
Der Feminismus hatte es sich zur Aufgabe gemacht, gegen Diskriminierung zu kämpfen. Also musste er auch diejenigen berücksichtigen, die nicht in die auf „männlich“ und „weiblich“ reduzierte Kategorisierung passten. Dazu zählen ebenso nonbinäre Menschen, die sich keinem Geschlecht eindeutig zugehörig fühlen. So kam es von der Frauenbewegung über die Schwulen- und Lesbenbewegung zur Queer-Bewegung. Darüber hinaus rückte der Begriff der „Intersektionalität“ in den Mittelpunkt. Stimmen von Schwarzen und Migrantinnen wurden laut. Und der sogenannte „White Feminism“ musste zur Kenntnis nehmen, dass er vor allem auf die immer noch sehr privilegierten Lebensrealitäten von Weißen fixiert war.
Den Blick für andere Perspektiven weiten
Insbesondere durch die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw wurde die Öffentlichkeit darauf aufmerksam, dass Diskriminierungserfahrungen von Schwarzen andere sind als die von Weißen. Denn erstere erleben doppelte Diskriminierung aufgrund ihrer Hautfarbe und ihres Geschlechts. Intersektionalität meint, dass Diskriminierungskategorien wie Rasse, Klasse, Geschlecht, Sexualität, Behinderung oder Religion zusammenwirken, sich gegenseitig verstärken oder sogar neue Formen von Diskriminierung produzieren. Die Kämpfe der Frauen im Iran zeigen, wie wenig diese mit den Kämpfen von Frauen in Europa gleichzusetzen sind.
Die dritte Welle der feministischen Bewegung blickt vielen Herausforderungen ins Auge. Laut Kerner geht es darum, bei unterschiedlichen Identitäten und Erfahrungen, gemeinsame politische Ziele ins Auge zu fassen und im Kampf gegen Diskriminierung nicht selbst zu diskriminieren. „Die Welt ist komplex, und sie verändert sich permanent“, erklärt Petra Stein. „Als Gesellschaft müssen wir immer wieder aushandeln, wie wir zusammenleben möchten, welche Werte wir vertreten. Und dabei gibt es niemals totale Einigkeit, weil wir Menschen so unterschiedlich sind. Ein konstruktiv demokratischer Prozess ist dabei das Ideal, um Lösungen zu finden, die für möglichst viele Menschen akzeptabel sind“, fährt sie fort.
Feministische Gerechtigkeit meint heute also nicht bloß Geschlechtergerechtigkeit, sie meint soziale Gerechtigkeit. Petra Stein hält fest: „Wichtig ist, dass wir im Austausch bleiben, andere Perspektiven als nur unsere eigene respektieren und so trotz aller Komplexität ein möglichst hohes Niveau an Gerechtigkeit realisieren.“