Corona und die Folgen des Krieges haben die Situation verschärft. „Aber schon vorher hatten wir ein Problem mit der Gerechtigkeit“, sagt der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Thorsten Latzel. Er mahnt bessere Rahmenbedingungen an und warnt davor, Utopien einer vollkommen gerechten Welt zu überhöhen.
Herr Latzel, geht es noch gerecht zu in unserem Land? Und was ist der Maßstab, um das zu beurteilen?
Dazu muss man klären, was „gerecht“ heißt. Teilhabemöglichkeiten spielen hier eine wesentliche Rolle: Haben Menschen die Möglichkeit, ein menschenwürdiges Leben zu führen, also erst einmal ganz schlicht ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen – von Ernährung bis zu einer warmen Wohnung? Dazu gehören aber auch die Teilhabe am kulturellen, sozialen Leben und eine Arbeitsmöglichkeit. Ich bin selbst ein Arbeiterkind. Für mich geht es dabei auch immer um Würde. Darum, Menschen aus anderen Schichten nicht zu diskriminieren.
Wir haben nun bald drei Jahre Pandemie hinter uns, sehen uns dem Krieg in der Ukraine mit all seinen Folgen gegenüber. Haben in diesen Krisenzeiten die Entwicklungen gelitten, gemessen an Ihren Maßstäben?
Die Corona-Jahre haben ebenso wie jetzt die Inflation die Lage verschärft. Aber wir hatten auch schon vorher ein Problem mit der Gerechtigkeit in unserem Land. Corona hat dazu geführt, dass es gerade für Familien in prekären Wohnverhältnissen schwieriger geworden ist. Auch für bildungsschwächere Familien ist Corona ein größeres Problem gewesen. Verschiedene Berufsgruppen waren stärker betroffen, hier auch viele Selbstständige, die Kulturbranche, insgesamt Menschen, die stärker auf ihr Einkommen angewiesen sind. Genau wie jetzt die Inflation verschärft das eine Situation, die wir vorher schon gehabt haben. Für die Frage, wie reich ein Mensch ist und was er sich leisten kann, ist immer stärker entscheidend, was jemand besitzt, und weniger, welches Einkommen er hat. Wir haben schon vorher in Deutschland ein Problem gehabt mit Kinderarmut. Oder damit, dass speziell Alleinerziehende vor riesigen Herausforderungen stehen. Das ist ein Skandal in einem Land wie Deutschland. Wir erleben im Moment etwa, dass Kinder aus sozial schwächeren Verhältnissen aus Betreuungsangeboten abgemeldet werden, um Geld zu sparen. Und wir haben ein neues, zusätzliches Problem mit Altersarmut. Auch das gab es vorher schon, hat aber insgesamt noch einmal zugenommen. Die Hälfte der Menschen in Deutschland hat keinen wesentlichen Besitz. Das sagt etwas über Verteilungsungleichgewichte aus. Wir zementieren diese Verhältnisse. Armut und fehlende soziale Teilhabe werden viel zu häufig an die nächste Generation weitergegeben.
Warum wird diese, wie Sie beschrieben haben, auch schon lange bekannte Entwicklung gesellschaftlich und politisch so stiefmütterlich behandelt?
Wir hatten lange eine Situation mit wirtschaftlicher Prosperität, in der gesellschaftlich genügend Mittel vorhanden waren. Das hat an gewissen Stellen die Augen zugedeckt. Häufig haben sozial Schwächere auch keine starke Lobby, sie werden zu wenig gehört. Im Bereich des Niedriglohnsektors wird jetzt – Gott sei Dank – nachgesteuert. Man muss von dem, wofür man arbeitet, auch leben können. Denn wir haben längst eine neue Art von Armutsgefährdung trotz Erwerbstätigkeit. Selbst wenn Menschen mehreren Tätigkeiten nachgehen, können sie nicht wirklich davon leben. Das nehmen wir aber kaum wahr, weil Armut kein Thema ist, dem man sich gerne zuwendet. Auch die Betroffenen gehen damit nicht gerne nach außen. Deswegen haben wir sehr viel verdeckte Armut, gerade in ländlichen Gebieten. Das hat etwas mit Scham zu tun. Gerade ältere Menschen nehmen häufig die Rechte nicht in Anspruch, die sie haben. Wir müssen uns den Verteilungsfragen neu stellen – und die gehen eben auch in den Bereich von Besitz und nicht nur ins Einkommen.
In letzter Zeit höre ich immer wieder mal Sätze wie: Ihr, im Sinne von ihr da oben, gebt Geld und helft in der ganzen Welt, aber an uns hier im Land denkt niemand mehr. Was macht so etwas hinsichtlich des Gerechtigkeitsempfindens?
Das Problem bei einer solchen Argumentation ist, dass hier schwache Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Aber eigentlich geht es um die Frage: Wie verteilen wir Vermögen in unserem Land? Wie schaffen wir soziale Teilhabe von Menschen insgesamt? Dass wir gleichzeitig weltweit eine Verteilungs- und Gerechtigkeitsfrage haben, nimmt von dem nationalen Problem nichts weg. Im Gegenteil. Hier wird aber eine marginalisierte Gruppe gegen eine andere marginalisierte Gruppe ausgespielt. Als Exportnation profitieren wir in Deutschland von anderen Ländern und haben deshalb auch ein ökonomisches Eigeninteresse, Menschen in anderen Ländern zu helfen. Es geht also darum, dass wir uns den Ursachen für Armut und fehlende Teilhabe in unserem Land wie weltweit zuwenden müssen.
Wohin führt es, wenn wir das nicht mit der gebotenen Aufmerksamkeit und Konsequenz tun?
Das hat verschiedene Folgen. Es gibt Menschen, die still leiden, wie gesagt oft ältere Menschen. Eine alleinerziehende Mutter wird sich kaum sozial engagieren und für ihre Rechte eintreten können, sie hat gar nicht die Zeit dazu. Das nehmen wir alles nicht wahr und produzieren damit Probleme in der nächsten Generation. Wir haben einen riesigen Fachkräftemangel. Es ist in unser aller Interesse, gerade Kinder aus sozial schwachen Verhältnissen intensiv zu begleiten. Wobei die Bezeichnung „sozial schwach“ oft gar nicht zutreffend ist: Diese Menschen sind oft sozial stark, weil sie sehr viel auffangen und abfedern müssen. Es ist ein Problem, wenn Menschen das Gefühl haben, nichts verändern zu können, keine Selbstwirksamkeit erfahren. Das gefährdet eine Demokratie.
Sehen Sie einen Weg aus dieser Spirale?
Es kommt darauf an, dass wir Menschen Chancen eröffnen – denjenigen, die neu in unser Land zuwandern, ebenso wie denen, die schon lange da sind. Sie müssen erfahren: Wenn Du Dich einbringen willst, kannst Du das auch. Und dafür müssen wir die Voraussetzungen schaffen. Es geht also darum, die Gaben von Menschen zu fördern. Das war ja auch das Richtige bei dem Ansatz, nicht Arbeitslosigkeit zu finanzieren, sondern Arbeit. Das muss man dann aber auch so machen, dass man von dieser Arbeit anständig leben kann. Das ist jetzt auch eine Frage beim Bürgergeld, das sich vom Niedriglohnsektor unterscheiden muss, indem man ordentliche Löhne zahlt. Es geht darum, eine Existenzsicherung zu haben, dass Menschen menschenwürdig leben. In der Corona-Zeit wurde am Beispiel der Pflegekräfte ja deutlich: Es reicht nicht, zu applaudieren. Wir müssen auch zeigen, dass sie einen wichtigen Beitrag leisten und dass das auch etwas wert ist.
Ist das eine Frage der Solidarität?
Es ist eine Frage der Solidarität, aber es geht auch darum, dass wir Rahmenbedingungen schaffen. Wenn die soziale Schere in einem Land zu weit auseinandergeht, dann leiden alle darunter. Es macht mich nicht glücklicher, wenn ich das dritte oder vierte Haus besitze. Schon in der Sozialkritik der Propheten im Alten Testament heißt es: „Weh’ denen, die ein Haus zum andern bringen und einen Acker an den andern rücken, bis kein Raum mehr da ist und ihr allein das Land besitzt!“ (Jesaja 5,8) oder „Ein jeder wird ungestört unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen.“ (Micha 4,4) Es geht nicht darum, dass alle das Gleiche haben. Aber alle sollen einen wirklich gerechten Anteil haben und die Möglichkeit, etwas aufbauen zu können. Heute erleben wir, dass Häuser und Wohnungen Spekulationsobjekte geworden sind. In größeren Städten kann sich niemand mit normalem Einkommen eine Wohnung kaufen. Da stimmt etwas nicht. Das hat auch eine globale Dimension. Wenn Wohnungen internationale Spekulationsobjekte werden, dann verändert das die Lebensbedingungen, dann drängen wir ganze Berufsgruppen aus Städten heraus, weil sie es sich nicht mehr leisten können. Oder nehmen Sie die Frage nach der Spekulation mit Lebensmitteln. Wir brauchen ein neues Verständnis, wie wir als Gesellschaft zusammenleben wollen.
Sie haben das Alte Testament zitiert, das heißt, wir haben es bei Gerechtigkeit mit einer Frage zu tun, die den Menschen seit jeher begleitet?
Ja, es gibt urmenschliche Konflikte. Denken Sie an Erich Fromms „Haben oder Sein“, also die Frage, ob ich mich über meinen Besitz definiere oder darüber, welche Werte ich lebe und wer ich bin. Um auch etwas Positives zu sagen: Ich glaube, wir erleben zurzeit eine junge Generation, die viele materielle Werte von uns infrage stellt. Etwa wenn sie sagt: „Ich will kein Auto mehr besitzen. Ich will mich fortbewegen können und unterschiedliche Möglichkeiten dazu haben.“ Wir müssen auch ökologische Formen unseres Konsums infrage stellen. Ich glaube aber, das wird ein Gewinn für uns sein können, wenn wir darüber die Augen öffnen für andere Formen der Begegnung, des Miteinanders. Das zeigen auch Studien: Es macht nicht glücklicher, wenn ich ein zweites, drittes Auto habe. Zufriedenheit entsteht durch Begegnung zwischen Menschen, christlich gesprochen durch Nächstenliebe. Gott begegnet mir im Angesicht des Anderen, nicht im Lack meines neuen Autos.
Auch wenn es positive Beispiele gibt, überwiegt der Eindruck, dass wir als Gesellschaft Werte wie Solidarität oder Nächstenliebe zunehmend aus dem Blick verlieren. Ist das eine selektive Wahrnehmung?
Ich halte nichts von Kulturpessimismus. Worüber wir reden müssen, ist, gerechte Rahmenbedingungen zu schaffen: dass Menschen von ihrer Arbeit leben, ihre Kinder gut großziehen können, Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe haben. Das sind erst einmal Rahmenbedingungen, die politisch geschaffen werden müssen. Ich halte es etwa für problematisch, wenn private Stiftungen Wohltätigkeiten veranstalten und das Geld dafür haben, weil das Unternehmen vorher keine Steuern gezahlt hat. Es ist schön, wenn Bill und Melinda Gates sich keine Jacht kaufen, sondern etwas anderes machen. Aber wenn Microsoft vorher richtig Steuern gezahlt hätte, wäre das eine andere Form der sozialen Verantwortung und Gemeinschaft gewesen.
Gerechtigkeit muss man sich leisten können. Richtig?
Ich glaube, dass wir auch auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in unserem Land achten müssen. Es ist etwas Gutes, Arbeitsplätze für andere zu schaffen. Und ich habe eine hohe Achtung vor Unternehmerinnen und Unternehmern, die mit ihrem eigenen Geld und ihren Ideen Räume schaffen. Mich stört das Zerrbild vom Unternehmertum, das es mitunter in unserer Gesellschaft gibt. Im Gegenteil: Hier geht es um eine große soziale Verantwortung. Und dies sollte man so fördern, dass es etwas zu unserem Gemeinwesen beitragen kann. Das kann zum Beispiel durch eine kluge Steuerung geschehen, wie man Erbschaften oder Vermögen behandelt. Da gibt es durchaus Unterschiede, ob ich das als Kapital im Unternehmen lasse oder zu meinen privaten Zwecken verwende.
Kann es überhaupt eine gerechte Gesellschaft geben? Oder bleibt es ein Idealbild, dem man sich allenfalls nähern kann?
Der Begriff Gerechtigkeit selbst ist ja stark aufgeladen. Es gibt große Unterschiede, was der eine oder die andere darunter versteht. Worauf man sich vielleicht verständigen kann, ist, Menschen Anteil zu geben, Chancen zu eröffnen, Fairness und Solidarität. DIE gerechte Gesellschaft wird es nie geben, vor solchen Utopien müssen wir uns auch hüten. Es ist eine Leitidee, an der wir uns orientieren sollen, doch die vollkommene Gesellschaft wird es nie geben. Das Friedensreich auf Erden ist Gott vorbehalten, das können nicht wir errichten.
Wie sieht es aus mit Teilgerechtigkeitsaspekten, etwa Generationengerechtigkeit oder Gendergerechtigkeit? Sind die erreichbar?
Ich halte es, wie schon gesagt, für falsch, einzelne Gruppen gegeneinander auszuspielen. Es geht darum, intersektional zu denken. (Diskriminierungsformen überlagern sich, Anm. d. Red.) Alleinerziehende Eltern sind in der Regel Frauen. Und Frauen haben dadurch eine andere Form des Armutsrisikos. Wir müssen also auf das Armutsrisiko achten, und nicht die eine Gruppe gegen die andere ausspielen. Und wir brauchen viel mehr Prävention. Beispielsweise beim Thema Schulden. Wenn jemand zur Schuldnerberatung kommt, ist das Kind schon in den Brunnen gefallen. Oder wie reagieren wir, wenn ein Kind ohne Frühstück in die Kita oder die Schule kommt? Reagieren wir mit Behördenmentalität oder mit niederschwelligen Angeboten und Beratung?
Bei all diesen beschriebenen Herausforderungen, frage ich im Merkel’schen Stil: Schaffen wir das?
Wir sind an vielen Stellen dran, uns diesen Fragen zu widmen. Aber wir haben in den vergangenen Jahren Entwicklungen, bei denen wir gegensteuern müssen. Auch in der Corona-Zeit ist die Vermögensschere weiter auseinandergegangen. Wenn Energie und Lebensmittel auf einmal teurer werden, können viele Haushalte das nicht kompensieren. „Schaffen wir das?“ Ja, wir können das schaffen. Denn wir sind weiterhin ein reiches Land. Wir müssen darauf achten, dass wir die Wirtschaft fördern, mit Innovationen neue Arbeitsplätze schaffen, und darauf, dass wir ökologische und soziale Fragen nicht voneinander trennen. Ja, das können wir schaffen. Die Frage ist vielmehr: Setzen wir uns konsequent dafür ein? Und haben unterprivilegierte Gruppen eine Lobby bei uns?
Welche Rolle kann dabei Kirche spielen?
Als Kirchen sind wir sehr stark engagiert im diakonischen Bereich, für Menschen in unterschiedlichsten Lebenslagen: für Kranke, Alte, Alleinerziehende. Wir haben für die unmittelbare Krisenintervention jetzt beispielsweise Wärmestuben bei der Aktion Wärmewinter, wir haben Essenstafeln. Unmittelbar und schnell helfen, das macht jeder Pfarrer, jede Pfarrerin, jede Gemeinde. Zugleich bieten wir Beratungsangebote. Aber wir müssen auch an die strukturellen Fragen ran. Kirche agiert dabei als Lobby für Unterprivilegierte. Seelsorgliche Begleitung ist dabei auch sehr wichtig, weil soziale Probleme oft mit psychischen Belastungen einhergehen. Wir thematisieren solche Fragen auch in Gottesdiensten. Als Kirche vermitteln wir einen anderen Blick auf das Menschsein: dass jeder Mensch Würde hat, dass mir im Angesicht des Anderen Christus begegnet. Dabei predigen wir Nächstenliebe nicht nur, sondern praktizieren sie, pflegen sie das ganze Jahr über. In jedem Gottesdienst spielt die Kollekte etwa eine zentrale Rolle, damit wird die Haltung des Teilens mit anderen eingeübt. Was mir von Gott geschenkt ist, habe ich nie für mich allein, sondern es dient dazu, dass ich damit auch anderen dienen soll.