Francesco Friedrich setzt seinen Siegeszug auch in der neuen Saison fort. Der Bob-Dominator will noch bis zu den nächsten Winterspielen Titel und Rekorde einheimsen – für die Zukunft seiner Sportart sieht er aber schwarz.
Die gegnerischen Piloten stellen ihn kaum noch vor größere Aufgaben, also sieht Francesco Friedrich in den Eiskanälen die wahre Herausforderung. Und so reiste der Bob-Dominator voller Vorfreude zu den sonst eher ungeliebten Übersee-Weltcup-Rennen, denn dort hatte er mit den Bahnen ein paar Rechnungen offen. Die erste ist bereits beglichen. In Park City im US-Bundesstaat Utah erlebte Friedrich etwas inzwischen höchst Seltenes: einen Premierensieg. Noch nie zuvor hatte er auf der Olympiabahn von 2002 triumphiert, jetzt holte er sich im Zweier- und Viererbob gleich einen Doppelsieg. Es waren die Weltcupsiege Nummer 69 und 70 – und beim nächsten Wettbewerb soll der letzte „blinde“ Fleck in Friedrichs Wettkampfbilanz gelöscht werden.
Zielwert: 100 Weltcupsiege
„Wir haben mal gerechnet: Uns fehlt noch ein Vierer-Sieg in Lake Placid“, sagte der Doppel-Olympiasieger von Peking: „Wir haben also noch mal eine Aufgabe.“ Den noch fehlenden Erfolg will der Sachse, der ansonsten jeden Titel und jede Goldmedaille gewonnen hat, die es zu gewinnen gibt, beim dritten Weltcup am 17. und 18. Dezember auf der schwierigen Bahn im US-Bundesstaat New York unter Dach und Fach bringen. Ein Selbstläufer wird es nicht, die Bahn liegt den deutschen Piloten und Bobs nicht besonders. Doch Friedrich befindet sich schon wieder in einer Überform. Alle vier Rennen bei den ersten zwei Weltcups der nacholympischen Saison hat der 32-Jährige mit seinen Anschiebern gewonnen. Und Mister Unschlagbar hat noch längst nicht genug.
Die Schallmauer von 100 Weltcupsiegen will er durchbrechen. „Diese coole Marke würde ich gern erreichen“, sagte der Pilot des BSC Sachsen Oberbärenburg. Damit würde er auch sportartenübergreifend zum Phänomen aufsteigen. Der Ausnahme-Biathlet Ole Einar Björndalen hat als Rekordinhaber 95 Weltcup-Einzelsiege (einer davon im Langlauf) vorzuweisen. Friedrich dürfte den Norweger schon in der kommenden Saison ablösen. Allein in der Vorsaison waren ihm 29 Weltcup-Siege gelungen, nur bei drei Rennen hatte er mit seiner Crew nicht ganz oben auf dem Podest gestanden.
Der Saison-Höhepunkt waren aber natürlich die Winterspiele in Peking, wo er seine Olympia-Goldmedaillen Nummer drei und vier eingefahren hat. Genauso viele hat André Lange auf dem Konto. 2026 in Mailand und Cortina will Friedrich die frühere Bob-Ikone auch in dieser Kategorie überflügeln. Doch das ist nicht sein primäres Ziel. Friedrich peilt im Wintersport-Traditionsland Italien nicht nur einen erfolgreichen, sondern auch einen stimmungsvollen Schlusspunkt seiner Karriere an. „Ich hatte Spiele in Sotschi, Pyeongchang und Peking, und jeweils war es schwierig bis ausgeschlossen, dass die Familie dort mit hinkann“, erzählte er: „Jetzt ist das Ziel: Dort in Topform zu sein und mindestens einen Bus mit Familie, Freunden Fans dabeizuhaben und einen würdigen Abschluss feiern zu können mit allen, die mich begleitet haben.“
Mit einem dritten Olympia-Double-Coup würde sich Friedrich in seiner Sportart endgültig unsterblich machen. Etliche Superlative hat er schon gesetzt, manche von ihnen werden womöglich für immer unerreicht bleiben. Natürlich weiß der Dominator, dass seine Siegesserie für die Randsportart, die ohnehin mühsam um öffentliche Wahrnehmung kämpft, nicht unbedingt förderlich ist. „Vielleicht kann es auch mal langweilig sein“, sagte er: „Aber soll ich nur Halbgas fahren? Das hat Lewis Hamilton in der Formel 1 in den vergangenen Jahren auch nicht gemacht, damit es bis zum Ende spannend bleibt.“
Andere Nationen kaum Konkurrenz
In der Formel 1 ist es inzwischen zum Machtwechsel gekommen, der Niederländer Max Verstappen hat den Briten Hamilton in den vergangenen zwei Jahren die WM-Krone weggeschnappt. Doch in der „Formel 1 des Winters“, wie der Bobsport auch genannt wird, zeichnet sich eine Wachablösung nicht mal ansatzweise ab. Und das, obwohl Friedrich „den Österreichern und zuletzt auch den Amerikanern unter die Arme gegriffen“ hat, wie er selbst sagt: „Daraus sind tolle Freundschaften entstanden.“ Nur eben noch keine große Konkurrenz.
Auch wenig förderlich für die Spannung ist die Tatsache, dass die internationalen Toppiloten Justin Kripps (Kanada) und Benjamin Maier (Österreich) ihre Karriere beendet haben. Und der talentierte Russe Rostislaw Gaitukewitsch ist vom Startverbot seitens des Weltverbands als Folge von Russlands Angriffskrieg in der Ukraine betroffen. Die größte Gefahr für Friedrich geht nach wie vor vom eigenen Team aus. Johannes Lochner ist nicht gewillt, die Dominanz seines Landsmannes einfach so hinzunehmen. „Das kratzt am Ego, wenn der dir Woche für Woche um die Ohren fährt“, sagte der Stuttgarter. Beide Piloten sind trotz der sportlichen Rivalität befreundet. „Außerhalb der Strecke gibt es Gaudi“, sagte Lochner, „aber sobald das Visier runtergeklappt ist und die Ampel auf Grün springt, gibt es Krieg. Ich will ihm die Suppe versalzen.“
Das ist dem Vierer-Weltmeister von 2017 mit seinen Anschiebern zuletzt aber immer seltener gelungen, auch in Peking musste sich Lochner als Zweiter dem Überflieger geschlagen geben. Der Makel der ewigen Nummer zwei haftet ihm an. „Vier Weltmeister- und fünf Europameistertitel sowie zweimal olympisches Gold würden zusätzlich auf meiner Autogrammkarte stehen, wenn es euch nicht gäbe“, sagte Lochner schmunzelnd über die Friedrich-Crew. Vielleicht liegt der Unterschied zwischen Gold und Silber auch in der Herangehensweise begründet. „Ich bin der lustige Bayer, Francesco ist extrem strukturiert“, erklärte Lochner: „So könnte ich gar nicht arbeiten, aber der Erfolg gibt ihm ja recht.“
In der Tat ist Friedrich ein Perfektionist durch und durch. „Ich versuche, in allen Bereichen eine kleine Entwicklung stattfinden zu lassen. Das kann manchmal schwierig für die anderen sein.“ Vor allem für seinen besten Anschieber Thorsten Margis, dem er auch im Zweierbob vertraut. „Thorsten ist manchmal genervt, wenn ich mal wieder mit einer neuen Idee um die Ecke komme“, verriet Friedrich, „aber wenn ich ihn erst mal davon überzeugt habe, dann ist er auch Feuer und Flamme. Wenn er es eingesehen hat, dann ist er genauso akribisch wie ich.“ Ihm selbst kommt bei der Abstimmung von Bahn und Material eine Eigenschaft besonders gut entgegen: „In den Bereichen, die mir Spaß machen, habe ich ein nahezu fotografisches Gedächtnis und kann mir ganz viel oder fast alles merken.“
Friedrichs Perfektionismus war auch vor Olympia in Peking gefragt. Ein positiver Corona-Test – und seine Gold-Mission wäre womöglich gescheitert. „Wir haben zwei Jahre alle Entbehrungen hingenommen, um unseren Sport ausüben zu können“, sagte er. Aus Angst, sich kurz vor dem Abflug nach Peking noch mit dem Coronavirus anzustecken, lud er an Weihnachten sogar seine Eltern und seinen Bruder aus. „Das fahren alle mit, das Programm. Und das geht auch einfach nicht anders“, sagte er damals. Man könne sich zwar überall und jederzeit anstecken, „aber wenn man nicht die nötigen Vorkehrungsmaßnahmen getroffen hat, dann wäre das einfach schade“. Friedrich flog coronafrei nach China und kehrte coronafrei und mit zwei Goldmedaillen im Gepäck wieder heim.
Bobsport an Zeitgeist anpassen
Kurz danach folgte der Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine, die Folgen trieben die Energiekosten hierzulande in die Höhe. Friedrich weiß natürlich, dass künstlich vereiste Bobbahnen in Zeiten der Energie- und Klimakrise fragwürdig sind. „Ja, das beißt sich, und ja, meine Jungs und ich sind zwiegespalten. Es ist aktuell grenzwertig, was wir machen, dessen sind wir uns bewusst“, sagte Friedrich der Tageszeitung „Die Welt“. Auf seiner Heimbahn in Altenberg habe man aber die Zeichen der Zeit erkannt, dort werde intensiv daran gearbeitet, „die Piste sparsam und mit umweltfreundlichem Strom zu vereisen. Bitter ist nur, dass es immer erst knallen muss, damit sich etwas ändert“. Auch Bundestrainer René Spies forderte, der Bobsport müsse „grüner werden, selber Strom erzeugen“ und vor allem später mit der Saison starten, damit weniger Energie für die Vereisung verbraucht wird. Das würde aber zwangsläufig zur Verkleinerung des Wettkampfkalenders führen – und das wiederum zu weniger TV-Präsenz und weniger Einnahmen.
„Im Sinne der Effizienz und des Überlebens unseres Sports ist sicher vieles denkbar“, sagte Friedrich dazu. Der Bobsport müsse sich an den Zeitgeist anpassen, denn seine Zukunft ist stark gefährdet – glaubt zumindest der erfolgreichste Pilot der Geschichte. „Wir haben so gut wie keinen Breitensport und auch kaum noch Leistungssport. Wir werden immer mehr zum Abfallprodukt anderer Sportarten“, sagte Friedrich. Er spricht die Sportler an, die meist aus der Leichtathletik zum Bobsport wechseln. Doch selbst dieser Zufluss ist deutlich schwächer geworden. „Hinzu kommt, dass der Sport grundsätzlich in unserer Gesellschaft keine große Reputation besitzt“, meinte Friedrich. Das erkennt man auch daran, dass selbst er, der alles gewonnen hat, was man gewinnen kann, für das Leben nach der Karriere nicht komplett sozial abgesichert ist. Friedrichs traurige Erkenntnis lautet daher: „Es wird die Zeit kommen, wo kein Bob mehr fahren wird. Wahrscheinlich werden unsere Enkelkinder vom Bobsport nur noch aus den Geschichtsbüchern erfahren.“
Ganz so schwarz will der Bundestrainer nicht in die Zukunft blicken. Man sei eine „Premium-Randsportart“, die gerade im Winter noch über eine „sehr gute Medienpräsenz“ verfüge, betonte Spies. Und im Herrenbereich sei man auch in den kommenden Jahren gut aufgestellt. Vor allem, weil sein Top-Pilot noch bis 2026 weitermachen wird. „Solange es möglich ist, wird mich niemand davon abhalten, das zu tun, was ich unverändert liebe“, sagte Friedrich, „nämlich Bob zu fahren“. Und zu gewinnen.