Wie macht sich AD(H)S bemerkbar? Haben Betroffene im Erwachsenenalter andere Symptome als Kinder? Diese Fragen und viele mehr haben uns die Experten PD Dr. med. Andreas Jähne und Dr. med. Roland Burghardt beantwortet.

Herr Dr. Jähne, was genau ist ADHS/ADS?
Dr. Andreas Jähne: Die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine psychische Störung, die im Kindesalter beginnt und bei einem Teil der Betroffenen erst im Erwachsenenalter diagnostiziert wird. Man kann mit ADHS/ADS in „gemäßigter“ Form durchaus gut leben. Sie ist behandlungswürdig, wenn die Ausprägung der Symptome zu einer deutlichen Beeinträchtigung führt, wenn die Betroffenen leiden und
sich weitere psychische Störungen entwickeln.
Wie macht sich AD(H)S bemerkbar?
Jähne: Es gibt drei Hauptsymptome einer ADHS-/ADS-Störung: Das erste sind Konzentrationsschwäche und Unaufmerksamkeit. Betroffene lassen sich leicht ablenken. Sie beginnen zahlreiche Tätigkeiten, aber bringen sie nicht zu Ende. Sie haben Schwierigkeiten, Regeln und Anweisungen zu folgen, weil diese schnell wieder vergessen werden oder durch neue Reize und Informationen ersetzt werden.
Das zweite ist die Hyperaktivität: Betroffene sind viel in Bewegung, mit den Händen bis hin zum ganzen Körper. Sie können kaum stillsitzen. Sie fallen durch übermäßiges Reden auf und sie reden mit übertriebener Lautstärke.
Als drittes Hauptsymptom kann Impulsivität beobachtet werden: Betroffene verhalten sich häufig unvorhersehbar. Sie fällen Entscheidungen und handeln danach, ohne an die Folgen zu denken. Sie geben spontane unüberlegte Antworten, bevor Fragen vollständig gestellt wurden. Sie können nicht abwarten und platzen in Gespräche hinein.
Darüber hinaus sind weitere Symptome mögliche Zeichen: etwa Schwierigkeiten bei der Steuerung von Emotionen, mangelhafte Organisation, Stressüberempfindlichkeit oder schnelle Änderungen in der Grundstimmung.
Wie unterscheiden sich ADHS und ADS – fehlt bei ADS lediglich das Merkmal der Hyperaktivität?
Jähne: Ja, auch ein Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADS) mit weniger stark ausgeprägter oder fehlender Hyperaktivität ist möglich. Diese Patienten erscheinen dann oft als verträumt und unstrukturiert.
Was genau passiert im Gehirn?
Jähne: Die Ursachen und die Entstehungsmechanismen von ADHS sind bislang – wie bei vielen anderen psychischen Störungen auch – noch nicht vollständig geklärt.
Nach aktueller Erkenntnislage liegt bei ADHS eine Dysfunktion des präfrontalen Cortex (vorderer Bereich) des Gehirns vor. Die Funktionsstörung ist mit einem Über- beziehungsweise Unterangebot von Botenstoffen (Neurotransmittern) in bestimmten Gehirnregionen verbunden. Diese sind für das Zusammenwirken von Motivation, Emotion, Kognition und Bewegungsverhalten verantwortlich.
Bei ADHS sind dabei die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin von besonders großer Bedeutung. Hinzu kommt, dass diese von anderen Neurotransmittern wie Acetylcholin, Glutamat oder Serotonin moduliert werden. Das deutet darauf hin, dass bei ADHS eine Multitransmitter-Dysfunktion vorliegen könnte.
Herr Dr. Burghardt, wie kann man AD(H)S diagnostizieren?
Dr. Roland Burghardt: Die Grenze zwischen Normalität und Krankheit ist bei ADHS fließend. Erst wenn ein „bestimmtes Maß“ überschritten wird, sollte man von einer „Störung“ sprechen. Doch was ist ein „bestimmtes Maß“?
Diese Frage zu beantworten ist gar nicht so leicht und macht die eindeutige Diagnose von ADHS so anspruchsvoll. Wenn ADHS oder ADS diagnostiziert werden soll, werden unter anderem standardisierte Fragebögen eingesetzt, unter anderem mit der WHO und einer Fachgruppe von Psychiatern und Forschern entwickelt. Wichtig ist jedoch, dass Selbstbeurteilung, Fremdbeobachtung und Interviews die Diagnostik insgesamt erleichtern und absichern. Zusätzlich können Konzentrationstests eingesetzt werden. Die klinische Entscheidung zur Diagnose ersetzen sie jedoch nicht.
Bei der Diagnostik im Erwachsenenalter ist vor allem relevant, ob die Symptome schon in der frühen oder mittleren Kindheit (vor dem zwölften Lebensjahr) vorhanden waren. Für die retrospektive Abbildung kindlicher ADHS-Symptome stehen verschiedene Evaluierungen und Skalen zur Verfügung.

Wie viel Prozent der Bevölkerung sind etwa betroffen? Und betrifft es mehr Kinder oder Erwachsene?
Burghardt: Von ADHS sind vier bis fünf Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland (Journal of Health Monitoring 03/2018, KiGGS Welle 2 – ADHS, rki.de) betroffen. 30 bis 50 Prozent zeigen auch im späteren Erwachsenenalter deutliche Symptome. Bei den Erwachsenen sind es etwa 4,5 Prozent der Bevölkerung (Fayyad et al. 2007; de Zwaan et al. 2012).
Haben Erwachsene mit AD(H)S andere Symptome als Kinder?
Burghardt: Die Symptome gleichen sich bei Kindern und Erwachsenen teilweise, verändern sich aber im Rahmen der Pubertät zum Teil deutlich, insbesondere wenn die Störung erst spät diagnostiziert wird, weil sie von begleitenden Störungen überlagert wird.
Bei Erwachsenen kann sich die ADHS-/ADS-Problematik mit dem Älterwerden verringern. Zwar „wächst“ sich eine solche Störung zumeist nicht völlig „aus“, doch vielen gelingt es immer besser, mit ihr umzugehen. Der auffällige Bewegungsdrang verändert sich zu einer inneren Unruhe. Erzwungene Inaktivität wie langes Stillsitzen wird wenn möglich vermieden. Sonst versuchen viele, ihre innere Unruhe mit Fußwippen oder Fingertrommeln abzubauen. Aber nicht immer verringern sich die Probleme beim Älterwerden. Nicht selten zeigt sich dann im Erwachsenenalter ein komplexes Krankheitsbild, das durchaus das gesamte Spektrum der Psychiatrie erfassen kann.
Was in aller Regel auch nach Übergang in das Erwachsenenalter als ausgeprägtes Symptom vorhanden bleibt, ist die Impulsivität.
Warum wird AD(H)S oft erst im Erwachsenenalter diagnostiziert?
Jähne: Häufig wird Erwachsenen erst dann bewusst, dass etwas nicht stimmen könnte, wenn es nicht gelingt, den eigenen Alltag zu organisieren, wenn man es nicht schafft, sich so zu konzentrieren, dass Ausbildung, Studium oder Job erfolgreich gemeistert werden können. Symptome werden häufig eher als unliebsame Eigenschaften, nicht aber als psychische Erkrankung gesehen. Sie gehen nicht zum Arzt.
Worauf zielt Psychotherapie bei AD(H)S ab?
Jähne: Insbesondere bei einer leichten bis mittelgradigen Ausprägung können etwa psychosoziale Interventionen sowie psychoedukative und verhaltenstherapeutische Interventionen eingesetzt werden. Ziele einer Behandlung können sein, einen angemesseneren Umgang mit Stress, Emotionen und Impulsivität zu erlernen und zwischenmenschliche Fähigkeiten zu fördern.
Wichtig ist ein individuell angepasstes Behandlungskonzept. Das Spektrum des Krankheitsbilds wird sorgfältig erhoben und berücksichtigt. Kommt es zu einer deutlichen Beeinträchtigung im Leistungs- und Sozialbereich? Leiden die Betroffenen? Besteht eine erhöhte Suchtgefahr? Entwickeln sich weitere psychische Störungen wie etwa eine Schlafstörung, Depression oder Angststörung oder sind sie bereits vorhanden?
Daraus abgeleitete Maßnahmen umfassen Bewegung, kreative Aktivitäten und Verhaltenstherapie.
Häufig wird auch Methylphenidat verschrieben. Wie wirkt dieses? Und bringt es in den meisten Fällen wirklich eine Besserung mit sich?
Burghardt: Sowohl für das Kindes- und Jugendalter als auch für das Erwachsenenalter sind verschiedene Medikamente zur erfolgreichen Behandlung einer ADHS verfügbar und zugelassen. Hierunter fallen zum Beispiel Psychostimulanzien (beispielsweise Methylphenidat oder Lisdexamphetamin), aber auch weitere Substanzen wie Atomoxetin. Bei der medikamentösen Behandlung sind verschiedene Kontrolluntersuchungen und Richtlinien zur Art und Dauer der Therapie zu berücksichtigen.
Allein aus der Diagnose leitet sich keine Behandlungsnotwendigkeit ab. Sie wird erst dann zur Option, wenn ADHS eindeutig in einem Lebensbereich ausgeprägte Störungen oder in mehreren Lebensbereichen leichte Störungen oder krankheitswertige Symptome bewirkt. Es ist letztlich immer die Einzelfallentscheidung des behandelnden Arztes oder der Ärztin.
Eine Therapie mit einem Medikament sollte außerdem multimodal ansetzen, also mit einer Psychotherapie ergänzt werden. Die Responderrate des Arzneimittels (ob ein Medikament wirkt) liegt im Erwachsenenalter zwischen 52 und 75 Prozent (Sobanski und Alm 2004).
Welche negativen Seiten haben diese Medikamente?
Burghardt: Zu möglichen Nebenwirkungen zählen zum Beispiel Appetitverlust, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen und Übelkeit. Der Einsatz von Medikamenten ist stets individuell abzuwägen und mit dem Patienten abzusprechen, dazu zählt unter anderem auch die möglichst nebenwirkungsarme Dosierung eventuell verordneter Arzneimittel. In Deutschland bestehen sehr strenge Voraussetzungen für eine medikamentöse Behandlung von ADHS.
Selbst wenn Medikamente nötig und sinnvoll sein sollten, sind sie allein noch nicht ausreichend. Eine Psychotherapie ist sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen mit ADHS für eine effektive Behandlung als Ergänzung unbedingt nötig. Denn die nachgelagerten sozialen Folgen stehen meist für die Betroffenen eher im Fokus als die Kernsymptome von ADHS, etwa der Arbeitsplatzverlust oder Beziehungsängste.

Es gibt oft auch einen Zusammenhang mit Depression und Angststörungen. Wie häufig kommt das vor? Wenn das oft zusammenhängt – können dann auch Antidepressiva bei AD(H)S helfen?
Jähne: Angststörungen treten im Zusammenhang mit ADHS bei bis zu 30 Prozent der Fälle auf. Bei depressiven oder bipolaren Störungen sind es ebenfalls bis zu 30 Prozent.
Wenn mehrere psychologische Erkrankungen bestehen (Komorbidität), sollte zunächst die im Vordergrund stehende Erkrankung behandelt werden. Der therapeutische Schwerpunkt läge zum Beispiel auf einer schweren depressiven Episode, die vorrangig zu einem ADHS-Syndrom behandelt werden würde. Gleichzeitig wird bei der Wahl der Medikamente zur Behandlung der Depression dann die komorbide ADHS berücksichtig. Es kommen dann zum Beispiel Noradrenalin-Dopamin-Wiederaufnahmehemmer und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer infrage. Bei Kindern und Jugendlichen empfiehlt es sich, diese Begleitstörungen primär psychotherapeutisch zu behandeln.
Welche Faktoren haben Einfluss auf die Entstehung von AD(H)S?
Burghardt: Der riskante Konsum von Nikotin, Alkohol oder anderen Drogen während einer Schwangerschaft kann - wie Sauerstoffmangel bei der Geburt - zu einem erhöhten Risiko für eine ADHS-Erkrankung des Kindes beitragen. Ebenso haben zentralnervöse Infektionen während der Schwangerschaft, niedriges Geburtsgewicht, Schädel-Hirn-Verletzungen sowie Komplikationen während Schwangerschaft und Geburt Einfluss auf eine spätere hyperkinetische Auffälligkeit. Solche Komplikationen müssen jedoch nicht zwingend ADHS verursachen.
Häufig gibt es auch einen Zusammenhang mit Autismus. Wie ist das zu erklären?
Burghardt: Beide Erkrankungen haben ihre eigenständigen Symptome. Gerade die Abgrenzung von anderen Entwicklungsstörungen, die ähnliche Symptome haben können, ist ein sehr spezialisiertes Feld. Wir wissen aber inzwischen, dass bei Menschen mit Autismus häufiger ADHS-Symptome auftreten.
Mit welchen Bereichen/Themen beschäftigt sich die Forschung in der letzten Zeit?
Burghardt: Die Forschung beschäftigt sich in der letzten Zeit glücklicherweise immer mehr mit dem ADHS und den begleitenden Störungen im Erwachsenenalter. Die sogenannte Transition (Übergang von Jugend zum Erwachsenen) spielt in der klinischen Forschung eine wichtige Rolle und weist auf die besondere Bedeutung von Erkennen und (Weiter-)Behandlung von ADHS hin.
Was waren die letzten "Meilensteine" in der Forschung?
Burghardt: Wichtig waren zum Beispiel die Erkenntnisse, dass es sich bei ADHS um eine Funktionsstörung im Stirnhirnbereich und einiger Stammganglien handelt. Spezialuntersuchungen haben gezeigt, dass bei ADHS-Kindern das Stirnhirn weniger oder kaum Glukoseverbrauch zeigt (Unterfunktion der Arbeitsintensität). Die Funktionsstörung beruht auf der Ebene der Neurotransmitter (Botenstoffe zum Beispiel Dopamin, Noradrenalin, Serotonin), die entscheiden, ob der Betroffene hypo- oder hyperaktiv ist.
Eine zentrale neuere Erkenntnis, die gesichert ist: ADS und ADHS verschwinden nicht mit dem Erwachsenwerden. Oft nehmen sie zwar ein neues Gesicht an, aber sie bleiben bestehen. Und für eine Therapie und professionelle Unterstützung ist es nie zu spät. Allein das Wissen darum hilft vielen Betroffenen, die entweder aus Scham für lange Zeit allein gegen Symptome angekämpft haben oder keine schlüssige Erklärung für ihre Probleme im Alltag gefunden haben.