Bei der 71. Auflage der Vierschanzentournee ruhen die deutschen Hoffnungen wieder mal auf Karl Geiger und Markus Eisenbichler – die sind aber beide noch auf der Suche nach ihrer Top-Form. Am 29. Dezember startet das Auftaktspringen in Oberstdorf.
Alles ist perfekt angerichtet für einen grandiosen Auftakt der 71. Auflage der Vierschanzentournee. Sie ist traditionell einer der Höhepunkte im Saisonkalender der internationalen Skisprung-Elite, auf die zwei Monate später auch noch die Nordischen Skiweltmeisterschaften im slowenischen Planica als weiteres Highlight warten. Vor allem in Oberstdorf, wo das Auftaktspringen mit der Qualifikation am 28. Dezember und dem einen Tag später stattfindenden Wettkampf auf der Schattenbergschanze über die Bühne gehen wird, ist das Besucherinteresse riesengroß. Schon Ende November konnten die Organisatoren freudig vermelden, dass die Oberstdorfer Arena beim Finale mit 25.000 Zuschauern ausverkauft sein wird. Das restliche Kartenkontingent für die Quali dürfte wohl ebenfalls noch Abnehmer finden. Nach zwei Jahren Corona-Pandemie mit leeren Rängen während der gesamten Tournee sind die Skisprung-Fans aus aller Welt offenbar wieder heiß auf Live-Performances. Und vor allem auf ein außergewöhnliches Skisprung-Spektakel am Schattenberg, wo rund 700 ehrenamtliche Helfer die Schanze und alles direkt drum herum in einen optimalen Zustand versetzt haben. Glücklicherweise spielte auch der Wettergott noch mit, weil es durch den etwa zweiwöchigen Kälteeinbruch im Dezember keinerlei Probleme mit der Schnee-Präparierung aller vier Schanzen gegeben hatte. Grüne Matten wie beim Weltcup-Start im polnischen Wisla wird es auf der Tournee daher nicht geben. Weil Kunstschnee dank der niedrigen Temperaturen mit minimalen Energieaufwand in allen vier Tournee-Orten produziert werden konnte.
Finale bereits ausverkauft
Die äußeren Rahmenbedingungen stimmen also schon mal zuversichtlich für großen Sport rund um Weihnachten und den Jahreswechsel. Und wie immer hoffen die deutschen Fans auf einen Triumph der heimischen Adler. Schließlich ist es schon eine gefühlte Ewigkeit her, dass einem deutschen Skispringer der Tournee-Gesamtsieg gelang. Doch über gut zwei Jahrzehnte waren bislang alle Versuche vergeblich, endlich in die Fußstapfen von Sven Hannawald zu treten, der die goldene Adler-Trophäe 2001/2002 errungen hatte (ewiger Rekordhalter mit fünf Tournee-Siegen ist allerdings der Finne Janne Ahonen). Aber immerhin waren in der jüngsten Vergangenheit die Leistungen der beiden deutschen Ausnahme-Athleten Karl Geiger und Markus Eisenbichler im Vorfeld der Tournee meist vielversprechend gewesen. Und zwar so, dass die in sie gesteckten Erwartungen bezüglich eines Sieges oder zumindest Spitzenplatzes bei dem Traditions-Event als einigermaßen realistisch anzusehen waren.
Was in der aktuellen, noch relativ jungen Weltcup-Saison mit bislang acht absolvierten Einzelspringen in Wisla (Polen), Ruka/Kuusamo (Finnland), Titisee-Neustadt und Engelberg (Schweiz) leider völlig anders ist. Weil die Vorstellungen des gesamten deutschen Teams vor allem in den beiden ersten Wettkampfstätten mehr als bescheiden gewesen waren, der Rückstand zur internationalen Konkurrenz unerwartet groß gewesen war. Im heimischen Titisee-Neustadt war nach dem holprigen Saisonstart, bei dem das DSV-Aushängeschild Karl Geiger in zwei von vier Wettbewerben nicht einmal die Teilnahme am zweiten Durchgang geschafft hatte, von Bundestrainer Stefan Horngacher immerhin eine positive Aufwärtstendenz, „einen deutlichen Schritt nach vorne“, bei seinen Schützlingen registriert worden. Eine Bestandsaufnahme, die sich kurz danach im Schweizerischen Engelberg als nicht gänzlich zutreffend erweisen sollte, als es Geiger und Eisenbichler im ersten Springen nicht mal in die Top 20 geschafft hatten. Doch beim zweiten Springen in Engelberg, das wieder mal der Pole Dawid Kubacki für sich entscheiden konnte, verhinderte nur ein Sturz nach einem weiten Satz im ersten Durchgang ein Mitmischen Geigers um einen Podiumsplatz.
Eisenbichler hinter eigenen Ambitionen
Einigermaßen hoffnungsvoll konnte Horngacher, dessen klar formulierter Anspruch es ist, bei jedem Wettkampf mit seinen Athleten um den Sieg mitzuspringen, eigentlich nur der tendenzielle Leistungsanstieg von Karl Geiger im Schwarzwald gestimmt haben. Auch wenn Geigers dritter Platz beim ersten Springen in Titisee-Neustadt vor allem sehr guten Windbedingungen im ersten Durchgang zu verdanken war. Aber mit dem fünften Platz im zweiten Springen in Titisee-Neustadt hatte Geiger immerhin den persönlichen Aufwärtstrend bestätigen können. Markus Eisenbichler hingegen war auch im Schwarzwald und in Engelberg weit hinter seinen eigenen ehrgeizigen Ambitionen zurückgeblieben.
Dem Rest des Teams, dessen wesentliche personelle Zusammenstellung für die Tournee schon durch Horngachers Nominierungs-Liste für die Wettkämpfe in Engelberg, der Vierschanzen-Generalprobe, abzulesen war, dürfte allenfalls ein gelegentliches Hineinschnuppern in die Top Ten bei einer der vier Tournee-Einzel-Stationen zuzutrauen sein. Weil im Unterschied zu Geiger und Eisenbichler den vier übrigen DSV-Adlern, nämlich Andreas Wellinger, Stephan Leyhe, Pius Paschke und Constantin Schmid, einfach die nötige Konstanz für eine vordere Platzierung in der Tournee-Gesamtwertung fehlt. Wobei es dem früheren Olympiasieger Andreas Wellinger nach seiner schweren, im Juni 2019 erlittenen Kreuzband-Verletzung einfach nicht gelungen ist, seine früher viel bewunderte und für seine Siege hauptverantwortliche Lockerheit wiederzugewinnen. In Engelberg überraschte er dann aber mit dem sechsten Platz als bester deutscher Adler beim knappen Sieg des Slowenen Anze Lanisek vor dem Polen Dawid Kubacki.
Natürlich ist eine exakte Prognose des Tournee-Gesamtsiegers jedes Jahr durch die Unsicherheit belastet, dass schon ein einziges Schwächeln bei einer der vier Stationen den Top-Favoriten aussichtslos ins Hintertreffen geraten lassen kann. Karl Geiger musste diese leidvolle Erfahrung bei der vergangenen Tournee machen, als er als strahlender Triumphator der Engelberger Generalprobe als Lokalmatador nach Oberstdorf angereist war. Dort hatte er 2020 das Auftaktspringen gewonnen und konnte nach dem fünften Platz zum Tourneestart schon nach der zweiten Station in Garmisch-Partenkirchen als abgeschlagener Siebter jegliche Sieg-Ambitionen aufgeben. Denn die 32 Punkte Rückstand gegenüber dem japanischen Ausnahmekönner Ryoyu Kobayashi waren einfach nicht mehr aufzuholen. Der Japaner, der letzte Saison den Gesamt-Weltcup knapp vor Karl Geiger für sich entschieden hatte, sucht zwar derzeit auch noch seine Top-Form. Aber er konnte nach seinem Tournee-Triumph 2021/2022 das Rekordpreisgeld von 147.300 Schweizer Franken einstreichen, weil seinerzeit allein schon die Prämie für den Gesamtsieg auf 100.000 Franken verfünffacht worden war und Kobayashi auch noch reichlich Zusatzgeld für drei Einzelsiege und für den Gewinn aller vier Qualifikationen einstreichen konnte.
Kubacki dominiert die Konkurrenz
Man sollte Kobayashi, einen der größten Ästheten des Skisprung-Zirkus, auf jeden Fall auf der Rechnung haben, wenn man über den erweiterten Kreis der Gesamtsieger-Favoriten für die aktuelle Vierschanzentournee sprechen möchte. Die nach Oberstdorf in gewohnter Weise weiter nach Garmisch-Partenkirchen zur dortigen Olympiaschanze (Quali am 31. Dezember/Wettbewerb am 1. Januar), von dort nach Innsbruck mit der Bergiselschanze (3. und 4. Januar) und schließlich zum Finale nach Bischofshofen mit der Paul-Außerleitner-Schanze (5. und 6. Januar) ziehen wird. Doch wenn man sein Geld verwetten möchte, sollte man besser auf den Polen Dawid Kubacki als wahrscheinlichen Tournee-Triumphator setzen. Denn Kubacki hatte die Konkurrenz im bisherigen Saisonverlauf nicht nur dominiert, sondern sie teils regelrecht zerlegt.
Er bewegt sich derzeit in einer ganz eigenen Liga. Schon sein dynamischer Absprung kann ihn dabei in Höhen katapultieren, die gefühlt einige Meter über dem Wert sämtlicher Konkurrenten gelegen hatten. Das hatte sich nach der Landung dann meist in einem ganz beträchtlichen Weiten- und Punktevorsprung niedergeschlagen. Der auch im Weltcup führende Pole hatte beispielsweise beim zweiten Springen in Titisee-Neustadt den Rest des Feldes geradezu deklassiert, weil er mit sagenhaften 25 Punkten Vorsprung vor dem Zweitplatzierten gewonnen hatte. Noch dazu hatte er es bei seinem zweiten Sprung so richtig krachen lassen und trotz der mit Abstand schlechtesten Windbedingungen aller Top-Springer mit 143 Metern dennoch den weitesten Satz hingelegt. Für Kubacki spricht auch, dass er in Garmisch-Partenkirchen, Innsbruck und Bischofshofen die offiziellen Schanzenrekorde hält. Neben Kubacki und Kobayashi sollte man auch den mit einer starken Frühform aufwartenden Österreicher Stefan Kraft im Auge behalten. Nicht zu vergessen den Slowenen Anze Lanisek und den Norweger Halvor Egner Granerud, der allerdings schon in den vergangenen beiden Jahren seiner Topfavoriten-Rolle letztlich nicht gerecht werden konnte.