Als Tennisprofis haben sie viel erreicht. Jetzt reichen ihnen die Emotionen, die großen Momente, der Kampf und die Quälereien, um Jüngeren und Fitteren Platz zu machen: Serena Williams, Roger Federer, Jo-Wilfried Tsonga, Juan Martín del Potro und andere Stars.
Eine Reihe altbekannter, stets rekordverdächtiger Gesichter wird in der nächsten Saison nicht mehr in den Ankündigungen professioneller Tennisturniere erscheinen. Mindestens zwei von ihnen haben sich einen Ruf als Tennisikonen mit Einmaligkeitsanspruch erspielt. Egal, ob sie als „Greatest Of All Time", als „Goats", als die Größten aller Zeiten, tituliert werden oder nicht. Die Rücktritte der vertrauten, der besonders großen und ganz besonderen Ballkünstler bleiben als einmaliges Rahmenprogramm des alljährlichen Tenniszirkus haften.
Das Jahr geht zu Ende und mit denen, die gehen, endet eine goldene Ära im Tennis. Tränen und Treueschwüre begleiteten die „Abschiedsbälle", die letzten Auftritte vor den Augen der Fans. Roger Federer, 20-maliger Grand-Slam-Sieger, plant trotz seines Ausstiegs aus dem Tennistour-Kreislauf noch ein wenig weiterzumachen. Der angeblich beliebteste Sportler der Welt will ohne Profiturniere und knieverträglich an unspektakuläre Orte zu seinen Bewunderern gehen. „An das Tennisspielen: Ich liebe Dich, ich werde Dich nie im Stich lassen", schrieb Federer in einem Abschiedsbrief. Der charismatische Jo-Wilfried Tsonga, einer der vier „neuen Musketiere" des französischen Tennis, verlas nach seinem letzten Match unter Tränen: „Jetzt stehe ich ohne Racket vor euch, meinem besten Freund in den letzten 30 Jahren. Meine Familie ist jetzt meine Priorität". Mit emotionalen Worten dankte er seinem Sport: „Danke, Monsieur Tennis, ich liebe dich."
Serena Williams und ihre Rekorde für die Ewigkeit
Auch die Grandes Dames ziehen weiter. Andrea Pektovic etwa freut sich schlicht an ihrer ganz individuell großen Karriere. Ohne deren Ende als „Befreiung" zu empfinden oder zu bezeichnen. „Es ist wirklich sehr, sehr schwer für mich, loszulassen", sagte sie bei den US Open. Die Tennis- und Politik-Analytikerin will sich ganz gemächlich neu sortieren.
Von einer Evolution weg vom Tennis, hin zu anderen Dingen, die ihr wichtig seien, sprach hingegen Serena Williams gegenüber der Zeitschrift „Vogue". Die Frage ist: In welche Sphären will sich die 41-Jährige, die als einzige Spielerin in der Offenen Ära seit 1968 sagenhafte 23 Grand-Slam-Titel holte, hoch entwickeln? Wozu? Vier Goldmedaillen von vier Olympia-Teilnahmen, 73 Titel im Einzel, 23 im Doppel und zwei im gemischten Doppel, zweimal alle vier Grand-Slam-Titel in Folge gewonnen, fast 100 Millionen Dollar an Preisgeldern sowie die Befriedigung, eine Botschafterin fürs Chancenergreifen zu sein, nimmt sie mit. „Wenn Serena sich vom Tennis zurückzieht, wird sie als die größte Spielerin des Sports gehen", sagte Billie Jean King, die in ihrer Ära selbst Geschichte schrieb.
Es wird wohl nie wieder eine Tennisspielerin geben, die mit all ihren Rekorden, ihrer Präsenz und ihrer Kontinuität auf den Courts der Welt derart dominiert. Es sei denn, Venus Williams macht so lange weiter, bis sie alle Bestmarken ihrer kleinen Schwester eingestellt hat. Von den jüngeren Spielerinnen ist Ähnliches nicht zu erwarten. Jede geht ihren eigenen Weg, sammelt Erfolge vielleicht so rasant, dass sie sich schon früh anderen Wegmarken zuwenden kann.
Siehe Ashleigh Barty, die aus der Reihe fällt in der Garde der Rücktritte dieses Jahres: Eine fantastische Tennisspielerin, mit ihrem ganz eigenen Stil, unangefochtene Nummer eins der Welt, geschätzt, geliebt – und nach ihrem Grand-Slam-Sieg in der Heimat, bei den Australian Open, im März ganz unaufgeregt gegangen. Mit gerade einmal 25 Jahren, nach 121 Wochen als amtierende Nummer eins des globalen Rankings, mit drei Grand-Slam-, fünfzehn WTA- und vier ITF-Titeln im Gepäck. Ihr fehlten der körperliche Antrieb, das emotionale Verlangen und sie sei insgesamt erschöpft, gab die Nummer sieben der ewigen Rekordweltrangliste der Profispielerinnen zu Protokoll. Kein Wunder: Bei den Australien Open hatte die damals 25-Jährige keinen Satz abgegeben und wurde mit ihrem Triumph zur ersten Australierin seit Chris O’Neil 1978, die beim Heimat-Grand-Slam die Siegestrophäe holte. Bartys zweiter Rücktritt war das: ihr endgültiger.
Die dreifache Mutter und einstige Weltranglisten-Erste Kim Clijsters trat nach 2007 und 2012 zum dritten Mal zurück. Sie hält es ähnlich wie Federer: „Ich möchte euch mitteilen, dass ich entschieden habe, keine offiziellen Turniere mehr zu spielen", verkündete die viermalige Grand-Slam-Siegerin in den sozialen Medien. Dieser Abschied der 38-jährigen Belgierin, die ausgerechnet während der Corona-Pandemie zu einem Comeback angesetzt hatte, dürfte ihr endgültiger sein.
Jedem Abschied folgen attraktive Verheißungen: International und national sind weiterhin starke Stars und jugendliche Aspiranten auf einen Himmel voller Sterne unterwegs. Siehe den erst 19-jährigen Spanier Carlos Alcaraz und die 21-jährige Polin Iga Świątek, die bei Männern und Frauen die Weltranglisten heuer selbstbewusst anführten. Die viele Talente der „Alten" in sich vereinen und mit neuen Methoden der mentalen und körperlichen Fitness auf ein anderes Level heben. Die Hoffnung auf neue Große wecken.
Auch fürs licht gewordene deutsche Damentennis. Bei den French Open 2014 waren neun deutsche Frauen am Start, in Wimbledon 2022 immerhin noch sechs. Unter ihnen die aktuell beste deutsche Spielerin, Jule Niemeier, die sich weit in die Top 70 hochgearbeitet hat. Außerdem die „Veteranin" Tatjana Maria, mit der sie sich im Viertelfinale ein deutsches Dreisatz-Duell lieferte. Maria wird mit Mitte 30 und als zweifache Mama immer besser: Sie zog ins Wimbledon-Halbfinale ein, für das es dieses Jahr allerdings keine Ranglistenpunkte gab. Und sie holte den WTA-250-Turniersieg in Bogota. Nicht zu vergessen sind die kraftvoll nachrückenden „ganz Jungen", wie Nastasja Schunk, die sich im Londoner Vorort 18-jährig erstmals direkt fürs Hauptfeld eines Grand Slams qualifizierte.
Starke Talente rücken nach
Keine Bange, die deutschen Damen haben eine Zukunft. Auch nach den „Golden Girls", von denen nach Julia Görges nun auch Andrea Petkovic die Bühne verlässt. Zumal Angelique Kerber trotz ihrer drei Grand-Slam-Titel plant, bei den Olympischen Spielen 2024 nach ihrer Babypause noch einmal für Deutschland anzutreten.
Der Deutsche Tennisbund (DTB) hatte für die Playoffs des einstigen Fed Cups, jetzt Billie Jean King Cup genannt, im November dank Maria, Niemeier, Siegemund und Friedsam keine Besetzungsprobleme. „Mit Tatjana, Jule, Laura und Anna-Lena sind die derzeit vier besten deutschen Spielerinnen nominiert. Eva Lys komplettiert das Team und hat es sich absolut verdient, als fünfte Spielerin dabei zu sein", sagte Teamkapitän Rainer Schüttler. Lys, 2002 in Kiew geboren, wurde 2021 deutsche Meisterin, gewann drei Turniere und ist in einem Jahr von Rang 600 auf Platz 134 der Weltrangliste aufgestiegen.
Auch die deutschen Herren stehen gut da. Obwohl sie beim Davis Cup in Hamburg ohne ihren Spitzenspieler auskommen mussten, schafften sie selbstbewusst den Einzug in die Finalrunde des Nationenwettbewerbs. Alexander Zverev, der Kohlschreiber einst als deutsche Nummer eins verdrängte, verletzte sich in der Halbfinalpartie gegen Rafael Nadal in Paris. Fatalerweise auf dem Sprung zu seinem ersten Grand-Slam-Finale auf Sand. Bis zum Start der nächsten Saison dürfte der 25-jährige, der im Juni zum Zweiten der Weltrangliste aufstieg, wieder fit sein.
Als deutsche Topspieler glänzten beim Davis Cup und andernorts Jan-Lennard Struff, Oscar Otte, Daniel Altmaier sowie die Doppelspieler Tim Pütz und Kevin Krawietz. Und es gibt weitere Aspiranten auf gute Karrieren aus deutschen Landen. Etwa den 19-jährigen Max Rehberg, der im Oktober bis ins Finale der „Internationalen Deutschen Tennis-Hallenmeisterschaft", der Wolfkran Open in Ismaning, durchzog. Der Landshamer freute sich schon nach seinem Achtelfinalsieg gegen den 35-jährigen Robin Haase, der einst auf Rang 33 der Weltspitze stand: „Ich bin einfach nur stolz auf meine Leistung und sehe es als Belohnung für die harte Arbeit, die ich zusammen mit meinem tollen Team investiert habe."
Der Vorhang hebt sich national und international für frische und unermüdliche Ballkünstler. Zu Letzteren gehören die 35-jährige Maria und der hüftoperierte Andy Murray. „Sir Andy", einst 41 Wochen lang die Nummer eins der Welt, kämpfte sich über Challengers- und Wildcard-Teilnahmen in die Top 50 zurück. Dennoch: Die alte Garde der Rekordbrecher und Charismatikerinnen, die gewöhnlich Aussichtsreichsten, sind fast weg. Wer kommt? Um aus dem Schatten von Allzeitlegenden wie der ästhetisch starken Ballathletin Serena Williams und dem eleganten „Maestros" Roger Federer zu treten, bedarf es mehr als eines kurzen Funkelns.
Der „sanfte Turm", „Delpo", Juan Martín del Potro warf 2009 bei den US Open sowohl Federer als auch Rafael Nadal aus dem Turnier und holte schließlich den Grand-Slam-Titel. Die Krone neben 22 weiteren Turniersiegen und viel Sympathie für seine zugängliche Art sowie sein Können. Mit 35 Jahren zog sich der Argentinier, auf dessen Auftritte – nie ohne Stirnband! – sich nicht nur seine engsten Fans freuten, zurück von der Profitour. Sein Knie will einfach nicht mehr mitmachen.
Viele Erinnerungen bleiben an die alte Garde. Auch an den „Musketier"-Kämpfer. Worte zum Nachdenken hielt Jo-Wilfried Tsonga, der vier Jahre zu den Top Ten der Welt gehörte, nach seinem letzten Match bereit: „Ich hatte fabelhafte Tage und solche, die weniger gut waren. Ich blieb dabei ich. Ich bin ein französischer Spieler, ich bin ein Schweizer Spieler, ich bin ein kongolesischer Spieler, ich bin ein schwarzer Spieler, ich bin ein weißer Spieler." Mit achtzehn Titeln und als einstige Nummer fünf der Welt ist der engagierte Sohn einer Französin und eines Kongolesen mit sich im Reinen: „Meine Träume sind wahr geworden. Und ich wünsche jedem Kind auf der Welt, dass es das gleiche Glück hat." Der Wunsch des 37-Jährigen an die Zukunft: „Ich hoffe, die Welt findet bald den Frieden, den ich heute gefunden habe."