Ein Pestizid-Ausstieg wäre für die Landwirtschaft nicht nur umsetzbar, sondern auch günstig: Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Organisation Foodwatch. Der Pestizid-Experte Lars Neumeister, der an dem Bericht mitgearbeitet hat, erklärt, wie der Ausstieg gelingen kann.
Damit die Transformation der Landwirtschaft klappt, müsste ein seit Jahrzehnten eingefahrenes, von Pestiziden abhängiges System umgestellt werden. Die Verbraucherorganisation Foodwatch hat Ende Juni die auf Englisch verfasste Studie „Locked-in Pesticides“ vorgestellt – und damit einen Ansatz für einen möglichen Umbau des Agrarsystems vorgeschlagen. Zusammen mit Foodwatch erarbeitete der unabhängige Pestizid-Experte Lars Neumeister zweieinhalb Jahre den 118-Seiten-Report. Die Kernaussage des Berichts: Ein Ausstieg aus dem System der Pestizide ist bis 2035 möglich.
Dabei liegt in der weltweiten Landwirtschaft seit Längerem einiges im Argen. Der Großteil der landwirtschaftlichen Erzeugnisse wird an eine Handvoll Konzerne und Großhändler verkauft, die über Preis, Sorten und Qualität entscheiden. Viele landwirtschaftliche Akteure wissen bis kurz vor der Ernte nicht, welchen Preis sie für ihre Produkte bekommen. Wegen der fehlenden Planungssicherheit müssen sie entweder die Kosten pro Produktionseinheit senken oder mehr Einheiten zu den gleichen Kosten erzeugen. Die meisten Landwirtinnen und Landwirte verfolgen letztere Strategie – in deren Fokus der Einsatz von Pestiziden steht.
Pestizide verursachen „erhebliche Kosten“
Das führt, wie Foodwatch argumentiert, zu einem ständigen „Wettlauf nach unten“. „Man hat sich auf einen Pfad der chemischen Kontrolle begeben, aber sich kaum Gedanken über die Auswirkungen gemacht“, sagt Lars Neumeister. Ein konventionell wirtschaftender Landwirt macht pro Anbausaison auf einer Fläche etwa fünf Anwendungen, wie aus den Erhebungen des bundeseigenen Julius-Kühn-Instituts hervorgeht. Statt präventiven Pflanzenschutz zu betreiben und auf eine breit gefächerte Fruchtfolge und Blühstreifen zu setzen, sei für die Landwirte das Spritzen bequemer und günstiger. Die damit verbundenen Auswirkungen sind zum Teil verheerend: Umweltzerstörung, Landflucht (Bevölkerungsabwanderung), Überproduktion und hohe Subventionen.
Für Lars Neumeister liegen die Gründe für den Pestizidausstieg auf der Hand: Pestizide in der Landwirtschaft verursachen ihm zufolge „erhebliche externe Kosten und Nebeneffekte, die uns teuer zu stehen kommen“. Denn der jahrzehntelange Einsatz von Herbiziden belastet unser Grundwasser und andere Pestizide hinterlassen Rückstände in den Nahrungsmitteln. Nur für die Kontrolle und Überwachung der Lebensmittel werden in der EU etliche Millionen Euro ausgegeben, sagt Neumeister. „Wir finden auch im Grundwasser immer noch Herbizide aus den 90er-Jahren, für die wir jedes Jahr Millionen Euro für die Grundwasserreinigung ausgeben müssen. Eine damals billige Unkrautkontrolle kommt uns heute teuer zu stehen“, erklärt er. Hinzu kommt, dass die vermeintlich nützlichen Pestizide aufgrund der Anpassungsfähigkeit der Schädlinge und Unkräuter „nur mäßig gut funktionieren“.
Daher fordert Foodwatch tiefgreifende Veränderungen im System der Agrarwirtschaft – von einer höheren Besteuerung der Pestizide über eine Umverteilung der EU-Subventionen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP), eine CO2-Bepreisung in der Landwirtschaft bis hin zur schrittweisen Einführung eines kumulativen Rückstandshöchstgehaltes für den Obst- und Gemüsesektor. Vor allem letztgenannter Punkt ist aus Verbrauchersicht interessant. Laut einer EU-Verordnung sollen die Rückstandshöchstmengen eigentlich so gering wie möglich sein. „Das sind sie aber mitnichten. Die tatsächlichen Höchstmengen liegen extrem hoch und bieten überhaupt keinen Anreiz, Pestizide zu reduzieren“, bemängelt Neumeister. Für verzichtbare Anwendungen, die eher der Aufhübschung von Gemüse dienen, könnten die Rückstandshöchstmengen gestrichen werden. „Damit wäre die Pestizid-Anwendung verboten“, sagt er.
Die landwirtschaftliche Produktionsweise sei im Ganzen darauf ausgerichtet, Pestizide anzuwenden. Wie die Foodwatch-Studie darlegt, ist der Einsatz von Pestiziden in der EU in den vergangenen Jahrzehnten nicht zurückgegangen. Ganz im Gegenteil: Die Anwendung von Herbiziden hat seit den 1990er-Jahren sogar zugenommen. Zu den größten Anwendern zählen Deutschland, Frankreich und die Niederlande. Vor allem in Deutschland und in den Niederlanden ist weder der mengenmäßige Einsatz von Pestiziden noch deren Toxizität zurückgegangen. Und: Die Intensität ist in beiden Ländern angestiegen, also die Zahl der mit Pestiziden behandelten Hektar Landfläche.
Zeitaufwand muss sich für Landwirte lohnen
Fernab der EU habe sich bereits eine nachhaltigere Landwirtschaft mit Mischkulturen und geringerem Anbau von Futtermitteln etabliert, so Neumeister. Vorstellbar sei auch eine Doppelnutzung auf gleichen Flächen, indem man beispielsweise wie in einigen afrikanischen Ländern eine Agroforstwirtschaft (Kombination von Ackerbau/Tierhaltung mit Forstwirtschaft) betreibt. „Agroforstsysteme sind ein Trend, den wir verfolgen müssen. Denn jeder Baum trägt bei Trockenheit und hohen Temperaturen zur Kühlung der Landschaft bei“, erläutert Neumeister. Mit Blick auf die Klimaerwärmung müsse man mehr „Bäume, Sträucher und Hecken in der Landwirtschaft“ etablieren.
„Wir könnten wahrscheinlich deutlich die Menge an Pestiziden reduzieren, wenn die Landwirte wirklich nur dort und nur dann spritzen würden, wo es notwendig werden würde“, unterstreicht der Pestizidexperte. Aber gerade diese Vorgehensweise würde eine sorgfältige Prüfung der Ackerflächen unter Einbeziehung der tatsächlich vorhandenen Schädlinge und gegebenenfalls Nützlinge erforderlich machen. „Der Landwirt muss aber das Interesse, das Fachwissen und die Zeit dafür haben“, so Neumeister. Doch so lange der Preis für Pestizide so niedrig sei und es keinerlei Anreize gebe, lohne sich der Zeitaufwand für die genaue Überwachung der Schädlinge und Nützlinge nicht.
Dem Experten zufolge sind zwei Möglichkeiten für Anreize denkbar. Nicht notwendige, verzichtbare Anwendungen sollten gestoppt werden. Der bisher nicht subventionierte Gemüse- und Obstanbau, wo mehr Personal und Handarbeit gefordert sind, müsste mit EU-Geldern gefördert werden. „Die GAP-Subventionen, die zum größten Teil in den Bereich Ackerbau und Futtermittel fließen, müssen mehr auf den Obst- und Gemüsesektor umgeschichtet werden“, betont Neumeister.
Blickt man auf die Landwirtschaft insgesamt, verteilen sich 70 Prozent der bewirtschafteten Flächen auf Mais- und Getreideanbau sowie Futtermittel. Die Herbizide, die beim Anbau von Silomais für die Erzeugung von Biogas oder als Futtermittel zur Anwendung kommen, sollte man mechanisch ersetzen, erklärt Neumeister. Denn gerade die Mais-Herbizide gelangen ins Grundwasser. Soll heißen: Landwirte sollten beim großflächigen Maisanbau auf diese Herbizide verzichten und die Böden mechanisch bearbeiten. „Dort, wo es sich am einfachsten umsetzen lässt, nämlich auf den großen Flächen, fängt man am besten an“, resümiert Neumeister.
Der Impuls zur Veränderung sollte nach Neumeisters Vorstellungen von den Landwirten ausgehen. Die sollten ein entsprechendes Sprachrohr finden und formulieren, unter welchen Bedingungen sie was verändern könnten, so Neumeister. „Unser gesamtes Lebensmittelsystem verursacht 30 Prozent der Treibhausgase. Wenn wir klimaneutral werden wollen, können wir nicht darauf beharren, dass am bestehenden System nichts geändert werden soll“, sagt Neumeister.
Letztlich muss die Agrarwende von unten, von den Landwirten und Verbrauchern angestoßen werden. So lautet auch ein Vorschlag im Foodwatch-Bericht: Bürger und Landnutzer sollten Foren bilden, die Agrar- und Ernährungswende gemeinsam ausgestalten und der Politik Vorgaben machen. Viel Zeit bleibt nicht mehr, schließlich hat sich die EU-Kommission selbst das Ziel auferlegt, bis 2050 klimaneutral zu werden.