Schwungvolle Phasen voller Elan und Schwächeperioden der Zwistigkeit. Vor 60 Jahren haben Deutschland und Frankreich im Élysée-Vertrag die Grundlagen ihrer Freundschaft formuliert. In den aktuellen Krisen ist diese Freundschaft besonders gefordert, auch wenn sich beide schwertun.
Freundschaften, in denen es nur eitel Sonnenschein gibt, sind selten und vielleicht sogar etwas unheimlich. Schließlich hat, bei allen Gemeinsamkeiten, jeder auch noch seine eigenen Interessen, Ansichten, Neigungen und Erfahrungen. Wieviel Substanz eine Freundschaft hat, zeigt sich vor allem dann, wenn es einmal knirscht. Dass im deutsch-französischen Verhältnis derzeit alles rund läuft, wird niemand ernstlich behaupten wollen.
Es fällt schwer, sich ein Bild von Olaf Scholz und Emmanuel Macron vorzustellen, in denen beide sich an den Händen halten wie einst Helmut Kohl und François Mitterand in symbolträchtiger Geste deutsch-französischer Freundschaft vor den Gräbern von Verdun.
Die Zeiten sind andere, die Herausforderungen erst recht. Heute bedarf es wohl weniger symbolträchtiger Bilder als konkreter, kraftvoller Initiativen im harten Krisenbewältigungsgeschäft.
Substanz zeigt sich vor allem in Krisen
Den Autoren des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags (Élysée-Vertrag) war durchaus klar, dass hier zwei sehr unterschiedliche Partner zusammenfinden sollten. Nicht umsonst formulierten sie: „Die beiden Regierungen konsultieren sich vor jeder Entscheidung in allen wichtigen Fragen der Außenpolitik und in erster Linie in den Fragen von gemeinsamem Interesse, um so weit wie möglich zu einer gleichgerichteten Haltung zu gelangen.“ Diese Betonung auf „so weit wie möglich“ war weise Voraussicht: Es hat sich in den sechs Jahrzehnten immer wieder bestätigt, dass es dabei Grenzen gibt.
Derzeit scheint nicht wirklich viel möglich zu sein. Die Verwerfungen der Grenzschließungen zu Beginn der Pandemie haben gezeigt, wie tief alte Ressentiments auch nach Generationen noch sitzen und wie schnell sie wieder mit erschreckender Deutlichkeit zutage treten können. Und das selbst (oder gerade?) dort, wo zusammen arbeiten und leben, einkaufen und feiern eigentlich zu einer Selbstverständlichkeit geworden war und noch vorhandene Hemmnisse Stück für Stück – wenn auch vielen zu langsam – weiter abgebaut wurden und werden.
Es ist aber nichts selbstverständlich. In der Krise gilt offensichtlich das alte Wort „Wenn es zum Äußersten kommt, ist mir die Jacke näher als der Rock“. Gesagt haben soll das Otto von Bismarck, der ja seinen eigenen Beitrag zum deutsch-französischen Verhältnis, namentlich zur ehemaligen „Erbfeindschaft“ geleistet hat.
(22. Januar 2019) wird der „Élysée-Vertrag“ (1963) erneuert und ergänzt - Foto: picture alliance / Sven Simon
In der Pandemie hagelte es gegenseitige Vorwürfe über Alleingänge. Und in der aktuellen Situation seit dem russischen Überfall auf die Ukraine werden die unterschiedlichen Interessenlagen beider Länder deutlich. Macron hat versucht, einen Gesprächsfaden mit Moskau zu erhalten. Scholz reist alleine nach Peking. Eine „gleichgerichtete Haltung“ ist da für den außenstehenden Beobachter schwerlich auszumachen.
Vieles im deutsch-französischen Verhältnis hat mit tief sitzenden historischen Erfahrungen zu tun, die manche bis ins 9. Jahrhundert zurückdatieren, als das Reich Karls des Großen geteilt und so die Grundlage für die „ungleichen Schwestern“ Frankreich und Deutschland gelegt wurde. Es hat aber auch mit dem Selbstverständnis zu tun, dem der Élysée-Vertrag Rechnung trägt: Nicht umsonst legt er eine Vielzahl institutioneller Verflechtungen fest, die nicht zuletzt den Sinn haben, gegenseitiges Verständnis zu entwickeln. Dort werden verpflichtende regelmäßige Treffen und der Austausch auf höchsten Ebenen ebenso festgelegt wie eine ganze Reihe weiterer Zusammenarbeiten, so auch im Bereich von Bildung und Kultur.
Entstanden ist so ein tiefes institutionelles und gesellschaftliches Netz, das ziemlich einmalig sein dürfte: Kommunen, Vereine, vielfältige kulturelle Partnerschaften im weitesten Sinne – eine „menschliche Infrastruktur der deutsch-französischen Beziehungen“, wie es der deutsch-französische Publizist Alfred Grosser einmal bezeichnete. Diese Beziehungen müssen aber, wie jede Freundschaft, sorgfältig gepflegt und stetig weiterentwickelt werden, um nicht zu verkümmern.
Beziehungspflege stand in den letzten Wochen wieder ganz oben auf der Agenda. Kanzler Olaf Scholz, Außenministerin Annalena Baerbock, Finanzminister Christian Lindner, außerdem Verkehrsminister Volker Wissing, sie alle gaben sich in Paris die Klinke in die Hand. Und die Bevollmächtigte für die deutsch-französischen Kulturbeziehungen, Anke Rehlinger, konnte aus ihren Gesprächen in Paris ebenfalls den Eindruck gewinnen, dass man sich auf beiden Seiten „mit großer Ernsthaftigkeit“ darum bemüht, Missstimmungen der Vergangenheit aufzuarbeiten. Denn natürlich ist allen klar, dass den aktuellen Krisen nur gemeinsam begegnet werden kann, als Partner – allen Unterschieden und Konkurrenzen auf nicht wenigen Feldern wie etwa der Wirtschafts-, Energie- und Militärpolitik zum Trotz.
Anke Rehlinger kann da als Bevollmächtigte für die kulturellen Beziehungen ein eigenes Gewicht mit einbringen. Als Ministerpräsidentin des Saarlandes kennt sie die Realitäten in der grenzüberschreitenden Großregion mit den dichtesten Pendlerströmen Europas – Alltagsrealitäten, die im fernen Berlin oder Paris oftmals nicht bewusst sind. Die Erneuerung und Fortschreibung des Élysée-Vertrags, der Aachener Vertrag von 2019, hat gerade den Grenzregionen besondere Bedeutung verliehen. Vieles darin Festgeschriebene wartet aber noch darauf, in der Umsetzung lebendig zu werden. Gleichzeitig ist der Industriestandort Saarland in einer Transformation begriffen, die ihn zur Modellregion für den „Green Deal“ einer CO2-freien Industrie in grenzüberschreitender Zusammenarbeit prädestiniert.
Mit großem Ernst an Beziehung arbeiten
Deutschland und Frankreich als Motor der europäischen Entwicklung, das war ein Bild, das lange Zeit prägte. Mindestens ebenso oft wurde diesem Motor nachgesagt, er sei ins Stottern geraten. Das Bild vom Motor steht dabei ebenso für Hoffnungen auf weitere Entwicklungen in der EU wie auch für Besorgnisse europäischer Nachbarn, überrollt zu werden. Gleichzeitig wird an beide, insbesondere an Deutschland, immer wieder die Forderung erhoben, eine Führungsrolle zu übernehmen, nicht zuletzt wegen ihrer wirtschaftlichen Stärke.
Es bleibt ein ständiges Austarieren, mit wechselndem Erfolg in verschiedenen Entwicklungsphasen. Beide Länder brauchen einander, und Europa braucht die Gemeinsamkeit beider in zentralen Fragen. Erst recht jetzt angesichts des Kriegs in der Ukraine. Deutschland und Frankreich haben gezeigt, dass jahrhundertelange Konflikte auch anders als mit kriegerischen Mitteln zu klären sind. Das lässt sich gewiss nicht eins zu eins auf andere Konflikte übertragen, gibt aber allemal ein ziemlich eindrückliches Vorbild. Die deutsch-französische Freundschaft ist eine besondere Leistung, die immer wieder helfen und anspornen kann, Unstimmigkeiten zu überwinden.