Der vormals erfolgsverwöhnte Deutsche Biathlon-Verband hat endlich die Weichen für eine rosigere Zukunft gestellt. Was noch keine Auswirkungen für die aktuelle Saison hat, in der bei den Herren Johannes Thingnes Bö schier unschlagbar zu sein scheint.
Der absolute Saisonhöhepunkt der aktuellen Biathlon-Saison lässt noch etwas auf sich warten. Aber dennoch sind die Blicke vor allem der deutschen Skijäger schon jetzt auf die heimische WM ausgerichtet, die vom 8. bis 19. Februar im thüringischen Oberhof stattfinden wird.
Nach Abschluss der ersten drei Wettbewerbe im finnischen Kontiolahti, im österreichischen Hochfilzen und im französischen Annecy Le Grand-Bornard konnte erwartungsgemäß das Zwischenfazit gezogen werden, dass die deutschen Athleten im Kampf um den Gesamtweltcup-Sieg auch diese Saison keine große Rolle spielen werden, vielleicht mit Ausnahme von Denise Herrmann-Wick. Daran wird sich wohl auch im neuen Jahr 2023 nichts ändern, wenn vor der WM noch Station im slowenischen Pokljuka (5. Januar bis 8. Januar), in Ruhpolding (11. Januar bis 15. Januar) und im italienischen Rasen-Antholz (19. bis 22. Januar) gemacht werden wird. Deutschland, die erfolgreichste Biathlon-Nation aller Zeiten, wenn man alle bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften errungenen Titel zusammenzählt, hat endgültig den Anschluss an die Weltspitze verloren. Ein Tatbestand, der sich nicht erst in der aktuellen Saison abgezeichnet hat, sondern sich schleichend im Laufe der letzten Jahre entwickelt hat.
Mangelhafte Talent-Förderung
Wobei lange Zeit die Erfolge von Ausnahmekönnern wie Magdalena Neuner und Laura Dahlmeier bei den Damen oder in der jüngsten Vergangenheit Arnd Peiffer, Erik Lesser oder Benedikt Doll bei den Herren Versäumnisse verschiedenster Art, vor allem bei der Förderung von Talenten im Nachwuchsbereich, übertüncht hatten. Im Deutschen Biathlon-Verband war man offenbar fälschlicherweise davon ausgegangen, dass sich die Dominanz aus glorreichen Zeiten mit Peter Angerer für die Bundesrepublik und Frank-Peter Roetsch für die DDR in den 1980er-Jahren über Mark Kirchner, Fritz Fischer, Frank Luck, Ricco Groß, Sven Fischer und Michael Greis in der folgenden Generation bei den Männern und Uschi Disl, Magdalena Neuner, Kati Wilhelm und Laura Dahlmeier bei den Damen ohne größere Anstrengungen oder strukturell-organisatorische Anpassungen an neue Entwicklungen im Biathlon-Sport werde aufrechterhalten können. „Ein einheitliches System, Talente zu bündeln, zu fordern und zu fördern, ist im deutschen Biathlon nur schwer zu erkennen“, so die treffliche Einschätzung der „Süddeutschen Zeitung“ nach der für das deutsche Biathlon mit gerade mal zwei Medaillengewinnen ziemlich enttäuschenden Ausbeute bei den Olympischen Spielen in Peking 2022. Wobei die deutschen Herren sogar gänzlich ohne Edelmetall geblieben waren, was letztmals davor 2010 in Vancouver der Fall gewesen war.
Mit dem Amtsantritt des neuen Sportdirektors Felix Bitterling im April 2022 hat auch der deutsche Biathlon-Verband endlich die Zeichen der Zeit erkannt und erstmals ganz offen über Probleme bezüglich zu schwachem Laufvermögen bei nachrückenden Talenten und unzureichender Schießleistungen bei den meisten Athleten gesprochen. Vielleicht hätte man dies durch Einbindung qualifizierter Trainer wie Ricco Groß, Johannes Lukas oder Michael Greis hausintern lösen können, statt diese heimischen Profis ins Ausland abwandern zu lassen. Im Frühjahr 2022 hatte man sich auf einen anderen Weg für einen Neuanfang begeben und mit dem Norweger Sverre Olsbu Røiseland (für den Damenbereich) und dem Slowenen Uros Velepec (für die Herren) internationale Experten als Disziplintrainer verpflichtet. Die nun unter den im Amt belassenen Cheftrainern Mark Kirchner (Herren) und Kristian Mehringer (Damen) tätig sind.
Doch damit nicht genug hatte Felix Bitterling jüngst auch ganz offen Kritik an der bisherigen Nachwuchsförderung geäußert: „Wir haben zu viel Angst in unserem System, junge Athleten früher zu schieben, als wir es gewohnt sind.“ Man habe in der Vergangenheit „zwei, drei Jahre länger gebraucht“ als andere Topnationen, bei denen sich Athleten mit „22, 23 oder maximal 24 Jahren“ bereits im Weltcup etabliert hätten. In einem Alter von 23 Jahren sei „bei uns in den letzten Jahren gar kein Junger in den Weltcup“ aufgestiegen. „Wenn Du mit 27, 28 Jahren erstmals in den Weltcup kommst, kriegst du vielleicht nicht zehn Chancen, sondern nur zwei. Dann fährt der Zug leichter ohne dich aus dem Bahnhof als bei einem 22-Jährigen.“ Es sei daher künftig ein Umdenken notwendig: „Wir müssen diejenigen, die sich im Junior-Cup hervortun, früher in den IBU-Cup schieben und aus dem IBU-Cup die Topathleten dann auch schneller in den Weltcup hochziehen.“
„Es wird aber seine Zeit brauchen“
All das wird aber seine Zeit brauchen, laut Zibi Szlufcik, dem Biathlon-Nachwuchs-Cheftrainer, kann das bis zu einer „Dekade“ dauern. Mithin alles andere als schöne Aussichten, weshalb man davon ausgehen kann, dass der ohnehin schon hohe Altersdurchschnitt in nächster Zeit noch weiter nach oben schnellen wird. Spitze ist der deutsche Biathlon-Sport derzeit nur noch als winterlicher Quotenbringer für ARD und ZDF. Deren immer gleiche Kommentatoren allerdings geradezu nervtötend selbst schwächste Leistungen deutscher Starter seit Jahren noch schönzureden versuchen.
Die bisherige Saisonbilanz für die deutschen Biathleten scheint bei einem oberflächlichen Blick sogar ganz positiv zu sein. Bei den Herren gab es überraschenderweise gleich drei Podestplatzierungen mit jeweils dritten Plätzen beim Auftakt in Kontiolahti für den 26-jährigen David Zobel (im Einzelrennen über 20 Kilometer) und den 29-jährigen Roman Rees (im Sprint; im Einzelrennen hatte Rees auch als Vierter überzeugen können) sowie den inzwischen 32-jährigen Benedikt Doll in Annecy Le Grand- Bornard (im Sprint). Bei den Damen hatte Denise Herrmann-Wick dank eines für sie eigentlich untypischen fehlerfreien Schießens sogar den Sprint in Hochfilzen für sich entscheiden können und in Annecy Le-Grand-Bornard in der gleichen Disziplin den dritten Platz erobert. Diese gute Ausgangsposition konnte sie beim anschließenden Verfolger in Frankreich aber ebenso wenig wie Mannschaftskollege Doll bei den Männern, der immerhin im letzten Rennen des Jahres beim Massenstart in Annecy den siebten Rang belegen konnte, zu einer weiteren Podiumsplatzierung nutzen. Dazu kamen noch Podestplätze in den Staffelwettbewerben, sowohl Herren als auch Damen konnten in Kontiolahti den zweiten Platz belegen. Die Herren konnten auch in Hochfilzen mit dem dritten Platz aufs Treppchen springen. Für die deutschen Männer waren die drei Podestplätze in Kontiolahti der beste Saisonauftakt seit sieben Jahren, doch sollte sich danach bewahrheiten, dass ein solch gutes Abschneiden im Unterschied zu früheren Zeiten eher die erfreuliche Ausnahme als die Regel sein wird.
Lauern auf Patzer der Konkurrenz
Wobei zu bedenken ist, dass aus dem deutschen Team eigentlich nur zwei Athleten den Sprung aufs Podest aus eigener Kraft schaffen können. Benedikt Doll bei den Herren, der jüngst schon mal sein Karriereende für 2023 oder auch 2024 zart angekündigt hatte, und die inzwischen 34-jährige Denise Herrmann-Wick bei den Damen. Sofern es beiden gelingt, ihrem unbestrittenen läuferischen Können auch noch ein möglichst fehlerarmes Schießen anzuhängen, wie es Herrmann-Wick bei den Olympischen Spielen 2022 sogar im langen Einzelrennen mit vier Schießeinlagen und der Goldmedaille gelungen war. Fast alle anderen deutschen Weltcup-Starter sind auf Patzer mit der Waffe der teils deutlich laufstärkeren internationalen Konkurrenz angewiesen, um auch nur in die Nähe der Podestplätze gelangen zu können. Roman Rees hat durchaus das Potenzial, künftig in die Fußstapfen von Benedikt Doll treten zu können, nur hat er den Beweis bislang zu selten antreten können. Die schon älteren Johannes Kühn oder Philipp Nawrath pflegen gute Platzierungen ständig am Schießstand zu verspielen. David Zobel oder Justus Strelow sind in der Loipe einfach viel zu langsam. Was bei den Damen auch für die guten Schützinnen Vanessa Voigt oder Anna Weidel gilt, die beide diese Saison schon am Podest mit einem vierten beziehungsweise fünften Platz schnuppern konnten. Bleibt noch die inzwischen 28-jährige Franziska Preuß, die eigentlich auch eine Podest-Kandidatin sein könnte, wenn sie nicht immer wieder von Verletzungen oder Krankheiten zurückgeworfen worden wäre.
Abseits der deutschen Brille herrscht im bisherigen Weltcup-Verlauf bei den Herren angesichts der Dominanz des norwegischen Überfliegers Johannes Thingnes Bö auf dem obersten Podiumsplatz gepflegte Langeweile, auch wenn er sich bei den beiden letzten Rennen des Jahres 2022 in Frankreich jeweils nur mit dem dritten Platz begnügen musste. Zumal auch Bös derzeit schärfster Konkurrent mit Sturla Holm Lägreid aus dem eigenen Lager kommt. Und Bös französischer Herausforderer Quentin Fillon Maillet seltsamerweise noch weit von seiner Bestform entfernt ist. Aufsteiger der Saison ist der Schweizer Niklas Hartweg. In gewohnter Lauerstellung auf Podestplätze haben sich die Schweden Martin Ponsiluoma und Sebastian Samuelsson sowie der Franzose Émilien Jacquelin gebracht. Bei den Damen geht es im Weltcup wegen des bisherigen Fernbleibens der Gesamtsiegerin des Vorjahres Marte Olsbu Røiseland deutlich spannender zu. Was die Siegchancen für Denise Herrmann-Wick gegenüber Konkurrentinnen wie der Französin Julia Simon, der Norwegerin Ingrid Landmark Tandrevold, der Italienerin Lisa Vittozzi, der Tschechin Markéta Davidová, der Österreicherin Lisa Theresa Hauser und nicht zuletzt den Schweden-Schwestern Hanna und Elvira Öberg deutlich verbessert hat.