Die Krawalle in Brasilien haben Auswirkungen auf die ganze Welt
Es sind verstörende Bilder, die aus der brasilianischen Hauptstadt kommen. Ein von Zerstörungswut angetriebener Mob stürmt das Parlamentsgebäude, den Präsidentenpalast und den Sitz des Obersten Gerichts. Es sind die Institutionen, die in Demokratien für politische Gewaltenteilung stehen. Eine Konstruktion, die vor Machtmissbrauch schützt. Fensterscheiben werden zersplittert, Möbel zertrümmert, Computer kurz und klein gehauen. Die Randalierer fordern offen das Eingreifen der Armee, wollen die im Oktober verlorene Wahl ihres rechtspopulistischen Idols Jair Bolsonaro mit Gewalt rückgängig machen.
Die Krawalle in Brasilien haben Auswirkungen auf die ganze Welt. Kippt die Demokratie dort, ist der Regenwald im Amazonas gefährdet. Die dichten Baumflächen binden große Mengen an Kohlendioxid – sie sind die grüne Lunge des Blauen Planeten. Der frischgewählte Präsident Lula hat versprochen, die unter Bolsonaro weit vorangeschrittene Abholzung zu stoppen. Darüber hinaus ist die aufstrebende Wirtschaftsmacht Brasilien als verlässlicher Rohstofflieferant global gefragt.
Die Szenen aus Brasilia wirken wie ein Déjà-vu aus den finstersten Tagen in der US-Hauptstadt Washington. Am 6. Januar 2021, fast auf den Tag genau vor zwei Jahren, zogen wütende Anhänger des abgewählten Präsidenten Donald Trump marodierend durch das Kapitol. Wie Bolsonaro hatte auch Trump mit einem Militärputsch kokettiert, sollte die Wahl nicht in seinem Sinne verlaufen. Wie Bolsonaro hatte auch Trump die Demokratie und ihre Institutionen mit geballter Verachtung überschüttet. Beide Staatschefs stachelten mit ihren Reden das Publikum auf und heizten das politische Klima immer weiter an.
Sowohl in Trump-Amerika als auch in Bolsonaro-Brasilien wurden urdemokratische Prinzipien aus den Angeln gehoben. Demokratie ist Herrschaft auf Zeit. Wahlverlierer erkennen ihre Niederlage an. Sie gehen selbstverständlich in die Opposition und versuchen, beim nächsten Urnengang besser abzuschneiden. Machtwechsel bringen frischen Wind, verhindern die Verstopfung des politischen Betriebs, beugen autokratischen Tendenzen vor und sind das Gegenteil von Diktatur. Der politische Gegner ist kein Erzfeind. Der Wettstreit der Ideen ist der Sauerstoff für ein republikanisches System westlichen Typs.
Auch die USA, deren demokratische Verfassung bereits zwei Jahre vor der Französischen Revolution 1789 verabschiedet wurde, sind nicht vor wiederkehrenden Angriffen auf die eigene politische Stabilität gefeit. Dazu zählen nicht nur die Trump-Jahre im Weißen Haus. Auch der mehrtägige Zirkus bei der Wahl zum Sprecher des Repräsentantenhauses zeigt: Eine radikale Minderheit der Republikaner, angeführt von glühenden Trump-Fans und Wahlleugnern, nimmt die Mehrheit der Partei als Geisel. Der neue Sprecher Kevin McCarthy ist praktisch in der Hand von Extremisten, die nur ein Ziel kennen: Präsident Joe Biden auf breiter Front blockieren.
Die zunehmende Aggressivität in der Politik wird begünstigt durch soziale Medien, die immer mehr zu Echokammern parteiischer Milieus verkümmern. Der politische Diskurs, der nach Schnittmengen für einen Kompromiss sucht, weicht einem gnadenlosen Kulturkampf. Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur. Der Respekt vor staatlichen Institutionen schmilzt, die Gewaltbereitschaft nimmt zu.
Gewaltausbrüche wie jetzt in Brasilia oder am 6. Januar 2021 in Washington sind zwar in Europa nicht zu beobachten. Aber auf dem „alten Kontinent“ kommt es ebenfalls zur Aushöhlung der Demokratie. Die Korruptionsvorwürfe rund um die griechische EU-Parlamentarierin Eva Kaili zeigen: Auch Abgeordnete in Brüssel werden bei Lockrufen finanzkräftiger Staaten schwach.
Darüber hinaus haben einzelne Länder Osteuropas ein strukturelles Problem mit Demokratie – zumindest, wie sie im Westen verstanden wird. Polens nationalkonservative Regierungspartei PiS versuchte, die Justiz an die Kandare zu nehmen. Ungarns Premierminister Viktor Orbán beschnitt die Pressefreiheit und schanzte seinen Gefolgsleuten EU-Subventionen zu.
All dies unterstreicht: Auf Demokratien gibt es keine Ewigkeitsgarantie – sie sind verletzlich geworden. Die Bürger sollten sich bewusst sein, dass Freiheit ein kostbares Gut ist. Selbstverständlich ist sie jedenfalls nicht.