Sensationell erreicht Darts-Profi Gabriel Clemens bei der WM das Halbfinale. Der Saarländer löst in Deutschland einen Hype aus – auch wenn es zum ganz großen Coup nicht gereicht hat.
Selbst Fußballstar Thomas Müller war ein bisschen gaga. „Auf geht’s Gaga, weiter so und hol’ dir das Ding“, schrieb der Profi des FC Bayern München auf Twitter: „Gagamania im Ally Pally“. Im berühmt-berüchtigten Alexandra Palace in London hatte ein gewisser Gabriel Clemens zu Jahresbeginn deutsche Darts-Geschichte geschrieben. Nie zuvor war ein deutscher Spieler bei einer WM ins Halbfinale eingezogen, nie zuvor hatte es hierzulande so eine große Euphorie um den Pfeile-Sport gegeben. Die deutschen Sportfans waren plötzlich im „Gaga“-Fieber. Aber wo kommt dieser Spitzname für Clemens eigentlich her?
Freunde und Verwandte würden ihn so nennen, erklärte der in Saarwellingen lebende Saarländer. „Mein zehn Jahre jüngerer Bruder konnte als Kind den Namen Gabriel nicht aussprechen, hat mich immer Gaga genannt“, sagte er: „Mittlerweile nennt mich fast jeder nur noch Gaga.“ So wie Müller und viele andere Darts-Fans, denen Clemens mit seinen phänomenalen WM-Auftritten die sonst terminarme Sportzeit rund um den Jahreswechsel versüßte.
Bei seinem Halbfinale, das Clemens gegen den Engländer Michael Smith mit 2:6 verlor, verzeichnete der übertragende TV-Sender Sport1 mit in der Spitze 3,78 Millionen Zuschauern sogar einen Allzeitrekord für die WM-Übertragungen. Der Durchschnittswert war mit zwei Millionen Zuschauern überragend, in der Hauptzielgruppe der 14- bis 49-Jährigen verbuchte Sport1 mit einem Marktanteil von 24,9 Prozent im Sendervergleich sogar einen höchst seltenen Tagessieg. Da die WM auch vom Streamingdienst-Anbieter DAZN, der keine offiziellen Quoten-Angaben macht, übertragen wurde, lässt sich ohne Zweifel feststellen: So groß wie diesmal war das Interesse an Darts in Deutschland noch nie. Und Clemens hatte daran den größten Anteil.
Phänomenale Leistung
Sensationell schwang sich der 39-Jährige, der noch keinen Turniersieg auf der PDC-Tour verbuchen konnte, während der verrückten Tage von London zu einem Star der Szene auf. Der gelernte Maschinenschlosser verdiente sich seinen Kampfnamen „German Giant“, den er bei Wettkämpfen benutzt, redlich. Sportlich waren seine Leistungen bis zur Halbfinal-Niederlage phänomenal, und mit seiner herrlich authentischen Art und dem trockenen Humor in den TV-Interviews begeisterte Clemens auch als Entertainer. Selbst in dem Moment, in dem sein Finaltraum brutal geplatzt war, lag ihm ein flotter Spruch auf den Lippen: „Ich hatte auch noch ’ne frische Unterhose. Es war alles darauf ausgelegt, bis zum Schluss da zu sein.“
Doch das WM-Finale verpasste Clemens, weil sein Halbfinalgegner Smith an diesem Tag einfach besser war. „Es überwiegt die Enttäuschung“, gab Clemens hinterher zu: „Ich habe verloren, die Laune ist gar nicht so gut.“ Es spricht für den Ehrgeiz des Deutschen, dass er sich über die Niederlage dermaßen ärgerte. Doch wirklich große Fehler konnte er in seinem Spiel nicht erkennen. „Ich habe mich lange im Spiel gehalten und habe kein schlechtes Spiel gemacht“, meinte er. Smith hätte jedoch wie „eine Ballmaschine“ agiert, „er hat nur 180er geworfen“. So habe am Ende „der bessere Spieler gewonnen“, wie Clemens ehrlich zugab, „Michael Smith hat ein fantastisches Spiel gemacht“.
So ähnlich wie er hatte sich einen Tag zuvor Darts-Primus Gerwyn Price gefühlt. Der Weltranglistenerste konnte bei der 1:5-Niederlage im Viertelfinale machen, was er wollte – Clemens war einfach besser. Am Ende stand bei ihm ein Durchschnittswert von 99,94 Punkten pro Wurf – deutscher WM-Rekord! „Ich habe keine Worte dafür. Ich habe den Weltranglistenersten geschlagen. Das ist unfassbar“, hatte Clemens in seiner ersten Reaktion nach dem Sensations-Sieg am Neujahrstag gesagt. Eigentlich hatte alles gegen ihn gesprochen, doch mit seiner Konstanz, Ruhe und Nervenstärke machte Clemens den Top-Favoriten auf den Titel sichtlich nervös. Dazu kam die lautstarke Unterstützung der deutschen Fans. „Der Ally Pally war auf jeden Fall deutsch“, schwärmte Clemens: „Die Stimmung war fantastisch.“
Der genervte Price setzte sich irgendwann sogar dicke Kopfhörer auf – doch es nutzte nichts. Er, der Muskelmann, der einstige Rugby-Profi, zog gegen den Nobody aus Deutschland mit der unübersehbaren Plauze den Kürzeren. Und das, obwohl Clemens zuvor bei einem Major-Turnier nie über das Achtelfinale hinausgekommen war und das Turnierformat mit fünf Gewinnsätzen eigentlich nur in der Theorie kannte. „Das ist ein schönes Erlebnis. Ich hoffe, dass es nicht das erste und letzte Mal ist“, sagte Clemens. Er wolle nun das Erlebte sacken lassen, Ruhe finden, „erst danach realisiert man das mal, da kann ich viel Positives draus ziehen“.
Clemens und seine Partnerin Lisa, die ihn live vor Ort unterstützte („Sie ist so etwas wie mein Anker“), reisten mit einem Preisgeld von 100.000 Pfund (rund 112.000 Euro) im Gepäck zurück ins Saarland. Dort wartete ein herzlicher Empfang auf den neuerdings berühmten Sohn der Stadt Saarwellingen. Sportlich wird Clemens in der neuen Weltrangliste einen Sprung in die Top 20 machen. Und bei Schaukämpfen und Galas wie dem Event in Neu-Ulm oder der Promi-Darts-WM beim TV-Sender Pro 7 nutzte er seine aktuelle Popularität, um ein bisschen Geld und Aufmerksamkeit zu generieren.
Das nächste große Turnier „The Masters“ findet Ende Januar in Milton Keynes statt, dort ist Clemens definitiv dabei. Ein Start in der Premiere League aber scheint trotz des WM-Erfolgs ein Traum zu bleiben. Das sei „mehr Wunschdenken als alles andere“, meinte Clemens, „Premier League ist ein megageiles Turnier, aber da gibt es andere, die das mehr verdient haben als ich“. Dort nehmen nur acht Profis teil: die ersten Vier der Weltrangliste, vier weitere Spieler werden mit einer Wildcard ausgestattet. Da der deutsche Darts-Markt aber dank Clemens gerade boomt und auch für die Veranstalter höchst interessant ist, könnte es vielleicht doch noch mit einer Einladung klappen.
Wie langfristig die Darts-Euphorie anhält, ist offen. Klar ist, dass der bodenständige Clemens kein extrovertierter Typ wie Price oder Michael van Gerwen ist, der eine große Show aus seinem Sport macht und den Glamour-Auftritt liebt. Clemens ist fest in seiner saarländischen Heimat verwurzelt, wo auch die meisten seiner Sponsoren ihre Geschäfte führen. In Saarwellingen betreibt er einen Darts-Shop, beim Fußball drückt er – natürlich – dem 1. FC Saarbrücken aus der 3. Liga die Daumen. Erst vor wenigen Jahren entschied er sich, als Vollzeitprofi dem Darts-Sport nachzugehen, weil er merkte: Ich kann das! Sollte sein steiler Aufstieg aber irgendwann enden, könnte er sich auch eine Rückkehr in einen „normalen“ Beruf vorstellen. „Natürlich, wenn ich nicht mehr erfolgreich bin und meinen Lebensunterhalt nicht mehr verdienen kann, würde ich zurück an die Werkbank gehen, das ist ganz klar“, sagte der frühere Industriearbeiter der „Süddeutschen Zeitung“.
Durch den WM-Erfolg ist aber schon viel Geld reingekommen. Und Clemens ist auf den Geschmack gekommen – genau wie die Fans. Spätestens in einem Jahr, wenn im „Ally Pally“ wieder um die WM-Krone gekämpft wird, hofft Sport-Deutschland wieder auf das „Gaga“-Gefühl.