Zum siebten Mal findet das Internationale Tanzfestival Purple in Berlin statt, das Kindern und Jugendlichen zeitgenössischen Tanz facettenreich näherbringt.

Lila, englisch purple, ist eine bestimmte Mischung aus den Farben Blau und Rosa, die wiederum wurden lange als Unterscheidungsmerkmal bei Babykleidung für Jungen und Mädchen benutzt. Das Kinder- und Jugendfestival für zeitgenössischen Tanz Purple will genau eine solche Trennung vermeiden, es wendet sich an alle, unabhängig vom Geschlecht. Die Idee dazu hatte 2017 die Tänzerin und Choreografin Canan Erek. Ihr Weg zum Tanz begann in Ankara mit Kinderballett ab sechs, und das für acht Jahre. Ballerina, erinnert sie sich, wäre schon ein Traum gewesen, denn zeitgenössischen Tanz gab es in ihrer Heimat nicht. In Istanbul studierte sie Journalistik, tanzte Modern, Jazz, Klassik – bis sie per Video die Arbeit von Pina Bausch kennenlernte. Das veränderte ihre Sicht auf Tanz. Nachdem sie unter Hunderten die Aufnahmeprüfung für Bühnentanz an der Folkwang Universität in Essen unter Bauschs Leitung bestanden hatte, zog sie 1987 nach Deutschland.
Anschließend absolvierte sie bis 1996 die vierjährige Diplom-Ausbildung Choreografie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin bei Dietmar Seyffert. Berlin mochte sie seit jeher, sagt sie. Zur Finanzierung der Studien jobbte sie als Fabrikarbeiterin, Kellnerin, Großküchenhilfe, unterrichtete Eiskunstläufer in Tanz. Und realisierte erste Soloprojekte. Gastchoreografien entstanden für die Australian Opera in Sydney, das Hans Otto Theater Potsdam, das Berliner Ensemble, ehe sie mehrere Jahre das Leipziger Tanztheater leitete. Seit 2007 lebt sie in Berlin und entwickelte eine Performance-Serie für öffentliche Räume wie Bürgeramt und Jobcenter. Und engagierte sich da schon im Bereich der kulturellen Bildung, ob im Rahmen der Kulturinstitution „TanzZeit“ oder beim Education-Programm der Berliner Philharmoniker.
Pina Bausch beeinflusste sie stark
Es scheint, als sei all dies Vorbereitung und Anlauf für ein Großprojekt gewesen, das sie 2017 aus der Taufe hob, jenes „Internationale Tanzfestival für junges Publikum“ unter dem demonstrativ in Versalien geschriebenen Titel Purple. Die Philosophie von Pina Bausch sei ihr Leitmotiv, bekennt Erek: Sie will die Individualität von Menschen auf der Bühne erleben lassen. Das soll bei dem jungen Publikum ab sechs die emotionale und räumliche Wahrnehmung, das abstrakte Denkvermögen und den Blick auf verschiedene ästhetische Ansätze schulen. Dazu lädt sie an mittlerweile neun Tagen professionelle zeitgenössische Kompanien mit ihren diversen inhaltlichen Fragestellungen ein. Purple 2023 findet, nach coronabedingter Verschiebung auf den Sommer, wieder im Januar statt. Das sei gut so, sagt Erek. Es ist kurz vor den Winterferien, die in Berlin fest liegen, das heißt, es gibt zuvor keine Prüfungen.
Spielorte sind diesmal das Hebbel am Ufer, das Theater an der Parkaue, das Theater Strahl, das Theater o.N., die Jugendtheaterwerkstatt Spandau und die Tanzkomplizen im Podewil. Hier können junge Zuschauer vom 14. bis 22. Januar elf Produktionen aus Belgien, den Niederlanden, Italien, Schweden, Spanien, Tschechien und Deutschland erleben, die sich mit Themen unserer Zeit auseinandersetzen. Ein spezielles Motto überwölbt das Festival nicht, die Stücke müssten aber die Kommunikation mit ihren Adressaten suchen, beschreibt Ca-nan Erek das Auswahlprinzip. Es gehe nicht um die Form eines Stücks, sondern um die propagierte Haltung, die Ehrlichkeit, aus der es entstanden ist. Dazu schaue sie sich viel im Ausland um. Kinder zwischen sechs und neun seien wunderbar zu begeistern, weiß sie, sie sind ganz im Augenblick präsent und fiebern mit. Doch auch die etwas Älteren gelte es zu erreichen.
Das geschieht nicht nur durch die Vorstellungen, sondern auch aktiv durch vor- und nachbereitende Workshops, in denen die Kinder und Jugendlichen sich selbst ausprobieren, oft unter Anleitung der Tanzenden auf der Bühne. Besonders wichtig sei ihr, fügt Canan Erek an, der Workshop für Lehrende: Sie sind in ihrem vertieften Verständnis für zeitgenössischen Tanz dann Multiplikatoren innerhalb ihrer Schulen.
Was genau bietet Purple in diesem Jahr? Eröffnet wird das Festival im Hebbel am Ufer mit „Das Auge, das Ohr und der Ort“ der belgischen Compagnie Michèle Noiret. Fast 60 Minuten tanzt ein Duo für Menschen ab zwölf sein Staunen über die Welt der Insekten und die Trauer über ihr zunehmendes Verschwinden, und das in einem großflächig mit Videos gestalteten Raum. Die Kleineren ab sechs lädt das Theater o.N. in „Über Überüberübermorgen“ des Duos Cécile Bally & Cathy Walsh zu einer fröhlich bunten Zeitreise in Wort, Tanz und Aktion. Vielarmige Menschen- und Tierwesen, etwa der Tintelefant am Live-Schlagzeug, begegnen ihnen beim Trip von der Vergangenheit in eine optimistische Zukunft. In dem Solo „PLI“ reicht dem Tschechen Viktor Černický eine winzige Fläche in den Uferstudios, um 40 rasante, die Fantasie anregende Minuten lang zu eigenen Fußrhythmen aus 22 Konferenzstühlen ständig neue Universen zu formieren. Anschließend bietet er für maximal zwei Schulklassen einen Aktiv-Workshop an.
Schaumstoffmatten verschiedenster Größe und Dicke bilden ebenfalls in den Uferstudios einen Bühnenraum, der einem Trio in einem Mix aus Sport und Tanz dazu dient, sich gegenseitig rollend, hüpfend, fliegend herauszufordern und auszutricksen. Wie viel Unterstützung und Vertrauen es hierzu braucht, ist die Moral der Geschicht’ von „Matta Matta 2.0“. Danach dürfen sich die Kinder ab sechs selbst auf den Matten testen. Johanssons Pelargoner Och Dans aus Schweden lässt den Tanz in der Jugendtheaterwerkstatt Spandau gleich ganz auf die jungen Besucher ab zehn übergehen: Eingangs erhalten sie Kopfhörer, aus denen ihnen eine Stimme vorschlägt, welches Körperteil sie bewegen, welche Raumwege sie gemeinsam gehen, welche Tanzschritte sie ausführen sollen. Am Ende ist „Die Choreografie“ ihr eigenes Produkt und fällt in jeder Vorstellung anders aus.
Urbaner Raum der Zukunft im Tanz

Ein galaktisches Abenteuer verspricht Regina Rossi im Podewil. Ihre multimediale Performance „Dance Machines“ versetzt die Teilnehmer ab elf ganze 90 Minuten über VR-Brillen und Kopfhörer in eine virtuelle Welt mit zwei Avataren professioneller Tänzerinnen. Interaktiv geht es für Menschen ab sechs auch bei der Compagnia TPO aus Italien zu. In „+ERBA. Ein Wald in der Stadt“ entwerfen zwei Tänzerinnen den urbanen Raum der Zukunft, die eine steht für Häuser und Straßen, die andere für lebensnotwendige Natur. Dabei entstehen durch wandfüllende, einander überlappende Farbprojektionen und akustisches Einspiel bezaubernde Welten, durch die auch die kleinen Zuschauer streifen und tanzen dürfen. Materialien für vorbereitende Aktionen in den Schulen stehen zur Verfügung.
Beklemmend realitätshaltig gestaltet Oulouy aus Spanien sein spannungsvolles Solo „Black“ in den Uferstudios. Mit Tanz von Afrohouse bis Krump, Wort und Bild geht es darin für Zuschauende ab 14 um Schwarzsein heute, Gewalterfahrung und den Kampf um Gleichberechtigung. Danach gibt es einen Artist-Talk. Das Duo Julia Keren Turbahn & Jan Rozman gewinnt in „Dinge Dingen“ Alltagsgegenständen neue Bedeutungen ab und verwandelt das Theater an der Parkaue in einen Ort spielerischer Entdeckung. „Fliegende Wörter“ zeigen ein Tänzerpaar und eine Musikerin gleich ganz in Klassenzimmern und schaffen so für Kinder einen direkten, kommunikativen Zugang zu Tanz. Das Theater Strahl fragt zum Festivalabschluss in der Uraufführung „In Zukunft bin ich ein Komet“ mit Martial Arts und neuem Zirkus nach unserer möglichen Zukunft.