Wie ticken die Menschen, wie funktioniert die Politik in einem Land, dem ein Krieg aufgezwungen wurde? Im Gespräch mit dem Kyjiwer Journalisten Denis Trubetskoy wird deutlich, was zu der ukrainischen Widerstandsfähigkeit führt und wie er die jüngsten politischen Ereignisse in der Hauptstadt einordnet.
Zwölf Monate Krieg auf europäischem Boden. Wie berichtet man darüber, ohne selbst vor Ort zu sein? Im Vorfeld dieses Titelthemas hat sich die Redaktion überlegt, über die aktuelle Lage der Menschen, aber auch der Institutionen und der ukrainischen Innenpolitik zu schreiben. An der Relevanz dieses Themas gab es intern keinen Zweifel. Denn die jüngsten Entlassungen und Rücktritte innerhalb der Regierung Selenskyjs gaben Anlass zu Spekulationen darüber, was zu diesen Entscheidungen geführt haben mag und in welcher Verfassung die Bevölkerung im Moment, nach zwölf zermürbenden Monaten, ist.
Also haben wir kurzerhand versucht, einen Kollegen in Kyjiw zu kontaktieren, dem wir auf Twitter folgen. Denis Trubetskoy, in Sewastopol auf der Krim geboren, berichtet seit 2015 über Politik und Sport in der Ukraine und Russland. Wir erreichen ihn per Webkonferenz am Donnerstagnachmittag in einem Café eines Kyjiwer Einkaufszentrums – zu Hause gibt es gerade keinen Strom. Um ihn schwirren Gesprächsfetzen, Kinder spielen im Hintergrund. „Der heutige Tag war etwas anstrengend“, berichtet Trubetskoy, es gab erneuten Raketenbeschuss. „Wie immer wurde die Energie-Infrastruktur angegriffen.“ Der Strom in vielen Teilen Kyjiws wurde abgeschaltet, damit mögliche Treffer nicht zu viel Schaden anrichten. „Durchgekommen ist aber nicht viel, ich habe nur eine laute Explosion gehört.“
Alltag in einem Krieg, der den Menschen in der Ukraine aufgezwungen wurde, in dem sie jeden Tag versuchen, zurechtzukommen. Und das klappt, alles in allem, ganz gut, trotz der Umstände, dank des Einfallsreichtums der Menschen. „Kyjiw selbst ist abends eine sehr dunkle, aber laute Stadt. Fast jedes Geschäft hat sich mittlerweile einen Generator angeschafft“, erzählt der Journalist über die ukrainische Metropole, in der er seit einigen Jahren wohnt. Die Menschen haben sich angepasst. „Für mich persönlich ist es mittlerweile schwierig, irgendetwas zu planen. Man weiß nicht, was die nächste Stunde bringt.“ Dort, wo die Frontlinie verlaufe, sei es natürlich um ein Vielfaches schwieriger.
Eine gewisse Müdigkeit, aber keine Frustration erkennbar
Mental einzuschätzen, was dies mit der Bevölkerung macht, sei nicht möglich. „Nach zwei Jahren Corona sind die Kinder nun mit dieser Situation konfrontiert, der Vater ist oftmals an der Front. Sich hier und jetzt anzupassen ist das eine. Wie groß der langfristige Einfluss dieses Krieges sein wird, ist eine der wichtigsten Fragen für die kommende Generation.“ Was beschäftigt die Menschen? Die Lage an der Front, ganz klar, steht an erster Stelle. Jeder kenne jemanden, der gestorben ist oder verwundet wurde, sagt Denis Trubetskoy. „Der Alltag ist schwer zu bewältigen und tritt auf eine schon fast mental ungesunde Art in den Hintergrund. Wenn man sich darüber beklagt, keinen Strom zu haben, dass die Arbeit schwierig ist, ist das in keiner Weise vergleichbar mit dem, was an der Front, in Bachmut oder anderswo passiert.“ Eine gewisse Müdigkeit sei festzustellen nach den Monaten des Zermürbungskrieges, den Russland gegen das Nachbarland führt, „das kann auch kaum anders sein, aber ich kann keine Frustration erkennen.“
Das Überraschendste, was letztlich zu jener viel beschworenen ukrainischen Stärke und Resilienz führte, war, dass die Armee nicht sofort auf dem Schlachtfeld einknickte – im Gegenteil. Es war das Funktionieren der staatlichen Strukturen im Krieg, Präsident Selenskyjs Verbleib im Land beim Angriff Russlands auf die Hauptstadt: „Wir wissen, die Lage ist schwierig. Aber was uns Kraft gibt, ist, dass auf die staatlichen Organe, die Post, die Bahn, die Nationalpolizei Verlass ist. Dies hat niemand so erwartet. Das Vertrauen in diese Organe, ihre Leistung und Effektivität, ist stark gestiegen.“ Zudem unterstützten die Menschen sich im Alltag gegenseitig und zeigten dabei eine hohe Kreativität darin, die Schrecken gemeinsam durchzustehen. „Ich bin weit davon entfernt, die Lage schönzureden“, sagt Trubetskoy, „aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sich dies ändert. Möglich ist aber, dass die Menschen für die Beendigung des Krieges ein wenig kompromissbereiter sind, als es die Umfragen suggerieren.“ 80 Prozent der Ukrainer sind laut Umfragen für die Rückeroberung des gesamten völkerrechtlich als ukrainisch geltenden Territoriums, inklusive der Krim. „Ich bin skeptisch, ob 80 Prozent tatsächlich insgeheim so denken“, hier spiele sicherlich auch die soziale Erwünschtheit einer solchen Antwort eine Rolle. „Aber dass die Ukrainer nach Monaten des gezielten Beschusses der Energie-Infrastruktur nun bereiter zu Verhandlungen mit Russland wären, ist nicht zu sehen.“ Im Gegenteil, die Meinung gehe eher in die andere Richtung.
Trotz allem, Politik spielt auch im Krieg eine Rolle in der Ukraine, „wenn auch in einer merkwürdigen Art und Weise“, sagt Trubetskoy. „Alle wissen, dass die politische Opposition Selenskyjs im Parlament nicht die Opposition sein wird, die ihn 2024 bei den Präsidentschaftswahlen herausfordern wird. Jedenfalls nicht Petro Poroschenko, der aktuelle Oppositionsführer im Parlament.“ Poroschenko, der von 2014 bis 2019 das Amt des Präsidenten bekleidete, steht seinen Äußerungen nach zu urteilen hinter Selenskyj, so wie die meisten anderen Politiker des Landes auch.
Selenskyj ist nicht unangreifbar
Alles verändert sich durch den Krieg. Selenskyj als Präsident aber ist nicht unangreifbar, auch wenn es den Anschein macht. Dies hat vor allem mit seinem Umfeld zu tun. „Selenskyj selbst, so habe ich den Eindruck, ist als Mensch und Politiker gewachsen – insbesondere in der Zeit, als sich die Russen aus der Gegend um Kyjiw zurückziehen mussten. Andere, die zu seinem inneren Kreis gehören, sind es nicht“, fasst Trubetskoy die aktuelle Situation in der ukrainischen Innenpolitik zusammen. Jüngste Entlassungen, Rücktritte und Festnahmen kurz nach der vergangenen Ramstein-Konferenz der westlichen Unterstützer der Ukraine belegen dies.
Es geht in diesen Fällen oft um Korruption, ein Problem in der Ukraine, das allerdings in den vergangenen Jahren insgesamt abgenommen habe, so die Einschätzung des Journalisten. Zahlreiche Anti-Korruptions-Strukturen in der Regierung und der Justiz belegen zumindest den Willen des Landes, jenen inneren Feind zu bekämpfen. „Die Menschen in der Ukraine sind deutlich intoleranter gegenüber Korruption geworden“, so die Einschätzung Trubetskoys. Dies bestätigt auch Tymofiy Mylovanov, Ex-Wirtschaftsminister der Ukraine und nun Leiter der Kyiv School of Economics, in einem Tweet: Dies habe vor allem mit Wiktor Janukowytsch zu tun, dem kremltreuen Präsidenten, der durch die Euromaidan-Proteste 2014 zur Flucht gezwungen war. Seine prunkvolle Residenz führte nach seiner Flucht nach Moskau den Menschen vor Augen, dass nicht Recht und Gesetz die Ukraine regierten, sondern Kleptokraten. Entsprechend rigoros geht nun auch die Regierung Selenskyjs dagegen vor, was in der Bevölkerung positiv aufgenommen werde. „Die Einzelfälle sind aber sehr unterschiedlich zu bewerten“, so Trubetskoy.
Das Verteidigungsministerium etwa hat überteuerte Lebensmittel für die Soldaten gekauft, es geht um 300 Millionen Euro, fand ein ukrainisches Investigativ-Medium heraus. Minister Olexij Resnikow versprach rasche Aufklärung, sein Stellvertreter trat zurück und übernahm die Verantwortung. „Insgesamt aber bleiben bislang viele Fragen hierzu offen“, kritisiert Denis Trubetskoy. Es sei ein Schritt, um Schaden von einer in diesen Tagen zentral wichtigen Institution abzuwenden. Schwer wiegt auch die Festnahme des stellvertretenden Infrastrukturministers. Wassyl Losynskyj soll Bestechungsgelder in Höhe von umgerechnet 400.000 Dollar bei der Beschaffung von Generatoren erhalten haben. Zwei Stellvertreter traten zurück, gegen weitere Mitarbeiter wird ermittelt. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Partei Selenskyjs hatte eine teure Immobilie nicht offengelegt, obwohl ihn das Gesetz dazu verpflichtete. Er verlor sofort seinen Posten, als dies bekannt wurde.
Prominentester Fall: Kyrylo Tymoschenko. Der stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung, wegen seiner Social-Media-Präsenz ein populärer und wichtiger Kommunikator der Regierung, trat zurück. Journalisten der „Ukrainska Pravda“ hatten aufgedeckt, dass er einen gespendeten Geländewagen als Dienstfahrzeug fuhr, der eigentlich als humanitäre Hilfe gespendet worden war. Tymoschenko stand Selenskyj auch persönlich nahe und gilt als einer der Köpfe hinter der starken Medienpräsenz des Präsidenten.
Die Ukraine jedoch braucht nun in kurzer und von außen betrachtet chaotisch wirkender Zeit eine stabile Regierung. Vor wenigen Tagen erst war die gesamte Führungsspitze des Innenministeriums bei einem Helikopterabsturz ums Leben gekommen. Die Personalquerelen, Skandale und den angekündigten Regierungsumbau bis hinunter auf die Ebene der Regionalgouverneure muss der Präsident nun rasch angehen, davon hängt nicht nur die funktionierende Regierung eines sich im Krieg befindlichen Landes ab. Die Frage der potenziellen EU-Mitgliedschaft erhöht den Druck auf Selenskyj, diese Probleme wie auch die Korruption professionell in den Griff zu bekommen. „Diese Beitrittsperspektive wird übrigens von den ukrainischen Behörden sehr ernst genommen“, unterstreicht Denis Trubetskoy. Zahlreiche Gesetze wurden bereits angepasst. Die Beitrittsaussicht schaffe eine erhöhte Disziplin. Die Zivilgesellschaft sei ohnehin dafür.
Regierung muss rasch handlungsfähig werden
„Die Ukraine hat aber im Moment nicht den Luxus, wichtige Figuren rasch aus der Regierungskonstruktion auszutauschen, wenn sie sich als ineffektiv oder skandalträchtig erweisen“, erklärt Trubetskoy. Unter normalen Umständen wäre dies anders. Aber seit dem russischen Angriff ist nichts mehr normal. „Dennoch kann sich die Regierung nun trotz der unterschiedlich zu bewertenden Fälle erstens als handlungsfähig erweisen, indem sie ‚aufräumt‘. Der zweite Grund ist trauriger: Der Krieg wird recht lange dauern.“ Darauf stelle sich Russland ein, wirtschaftlich und mithilfe andauernder Mobilisierungswellen; aber auch die ukrainische Politik, die daher perspektivisch stabilere Strukturen braucht.
Dass es überhaupt zu einem Krieg kommen kann, wurde selbst in den ukrainischen Medien und der Öffentlichkeit lange unterschätzt, so der Eindruck von Trubetskoy. „Aber spätestens, nachdem Putin sein Essay zur Ukraine im Juli 2021 veröffentlicht hatte, hätten wir unsere Meinung ändern müssen.“ Man habe das Gefühl gehabt, den Nachbarn gut zu kennen. „Aber freundliche Beziehungen zwischen Moskau und Kyjiw sind vorbei. Wir wenden uns vom russischen Kulturraum ab. Diese Welt ist weit von der Realität entfernt.“
Während des Gesprächs mit Denis Trubetskoy bricht zweimal die Verbindung ab. Nach anderthalb Stunden intensiven Austauschs glauben wir, einige wichtige Antworten auf unsere Fragen erhalten zu haben und verabreden, weiter in Kontakt zu bleiben. Entscheidend der Eindruck, dass die staatlichen Strukturen der Ukraine trotz des massiven Drucks funktionieren und dazu beigetragen haben, dass weite Teile der Ukraine nicht in russische Hand gefallen sind oder, wo dies doch geschah, zum Teil zurückerobert wurden. Bleibend auch der Eindruck, dass wir es mit einem Konflikt zu tun haben, der nicht binnen Monaten beigelegt sein wird. Daran werden auch jüngste Panzerlieferungen nichts ändern.