Knapp ein Jahr dauert nun der Krieg in der Ukraine. Ein Jahr, in dem vieles so viel anders verlaufen ist als vermutet und vorausgesagt worden war. Ein Jahr, in dem alte Sicherheiten zerbrochen und neue Perspektiven noch nicht formuliert sind.
Boris Pistorius informiert sich über die Sorgen der Truppe und sagt der Ukraine erste Leopard-2-Panzer bis Ende März zu. Der Moskauer Regierungssprecher Dimitri Peskow erklärt die zugesagten Panzerlieferungen an die Ukraine als eine „direkte Beteiligung am Krieg“. Die Meldungen über eine bevorstehende russische Großoffensive in Luhansk verdichten sich. In der Ukraine gibt es flächendeckenden Luftalarm, Russland soll 50 Raketen an einem Tag auf ukrainische Städte abgefeuert haben.
Es ist Tag eins nach dem offiziellen Beschluss zu Panzerlieferungen, Tag sieben der Amtszeit des neuen Verteidigungsministers. Ein Tag, an dem die Kommentatoren, die Olaf Scholz zuvor Zögerlichkeit vorgeworfen hatten, zum Teil noch rätseln, ob dem Kanzler mit der „Panzerallianz“ letztlich nicht doch ein strategischer Erfolg gelungen sei. Eine knappe Mehrheit der Deutschen (53 Prozent) findet nach einer Blitzumfrage (Forsa für RTL, ntv) die Entscheidung richtig, 39 Prozent sehen das nicht so. Aber selbst Befürworter gehen nicht davon aus, dass die Ukraine damit in die Lage versetzt werde, die Besatzer aus dem Land zu vertreiben. Das glauben nur 41 Prozent. Bemerkenswert ist, dass am häufigsten Anhänger der Grünen meinen, damit könne die Ukraine den Krieg gewinnen. Die Partei und ihre Anhänger haben seit Kriegsbeginn ohnehin eine höchst interessante Entwicklung an den Tag gelegt.
Es ist auch der Tag, an dem bereits über die Lieferung von Kampfflugzeugen als nächste Stufe geredet wird. Die USA und Frankreich schließen das nicht grundsätzlich aus, der Kanzler hat es in aller Deutlichkeit abgelehnt. Aber was ist in diesen Zeiten schon sicher?
Fast ein Jahr lang tobt nun der Krieg in der Ukraine. Krieg in Europa. Ein Krieg, der vieles von dem, was vor dem 24. Februar 2022 als sicher galt, infrage stellt und verändert. Dabei ist noch keineswegs absehbar, was sich wie verändert. Vieles ist in diesem Jahr seit Kriegsbeginn so ganz anders gelaufen, als es zunächst erwartet werden konnte.
Ein Jahr nach Kriegsbeginn ist der Ausgang offen
Das gilt zunächst für den Kriegsverlauf selbst, aber auch für die Reaktionen darauf. Ist Russland über- und die Ukraine unterschätzt worden? Wenn es so ist, dann stellt sich die Frage nach dem Warum.
Auch die Reaktion der EU hat überrascht. Sicher gab und gibt es viele und heftige, vor allem auch öffentlich ausgetragene Diskussionen. Aber am Ende gab es bislang immer eine klare Entscheidung. Die dann wiederum intensiv diskutiert wird, ebenso wie die möglichen nächsten Schritte. Auch das unterscheidet ein demokratisches System der Vielfalt von Autokratien und Diktaturen.
Die russische Führung hat offensichtlich darauf gebaut, dass eine von der Corona-Pandemie gebeutelte EU, deren Mitgliedstaaten zudem in einer ganzen Reihe von Fragen ziemlich unterschiedliche Ansichten haben und nicht selten einem zerstrittenen Haufen gleichen, kaum zu einer geschlossenen und derart entschlossenen Reaktion in der Lage wäre. Erst recht nicht, wenn Maßnahmen wie Sanktionen auch zu eigenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten führen. Und im Zweifeslfall gab es immer noch die Drohung mit den zugedrehten Gas- und Ölhähnen.
Was auf EU-Ebene und in Deutschland in diesen zehn Monaten geleistet wurde, allein um das Drohpotenzial der Energieabhängigkeit zu entschärfen, war ein Kraftakt der besonderen Art. Gleichzeitig wurde mit massiven Maßnahmen wirtschaftlichen und sozialen Folgen entgegengesteuert. Der vielfach prophezeite „heiße Herbst“ blieb mild, und dieser Tage wurden Prognosen einer drohenden Rezession in ein leichtes wirtschaftliches Wachstum korrigiert. Wirtschaftsminister Robert Habeck meint, es komme „weniger schlimm“, die Opposition antwortet: Weniger schlimm sei aber immer noch schlimm.
Gemessen an den Befürchtungen, die im vergangenen Sommer und Frühherbst im Raum standen, hat das Krisenmanagement, bei aller berechtigten Kritik, gegriffen. Auch um den Preis, dass viele früheren politischen Tabus gefallen sind, um dieses Ziel zu erreichen. Das wird absehbar zu weiteren Diskussionen führen. Die Möglichkeiten der Staatsverschuldung zur Krisenbewältigung sind begrenzt. Viele weitere „Doppel-Wummse“ werden kaum möglich sein, und die Notwendigkeiten eines konsequenten Klimaschutzes sind durch den Krieg nicht geringer geworden.
Auch wenn zu Jahresbeginn alles danach aussieht, dass die schlimmsten Befürchtungen nicht eintreffen, ist damit natürlich nicht alles wieder in Ordnung. Im Gegenteil werden uns die Folgen dieser massiven Kraftanstrengungen auf noch unabsehbare Zeit belasten. Und niemand kann die weiteren Entwicklungen voraussagen.
Wie dieser Krieg die Gesellschaft auf Dauer verändert, ist ebenso schwer vorauszusagen. Einerseits ist auf eine fürchterliche Art klar geworden: Nichts ist selbstverständlich. Weder Frieden noch Freiheitsrechte noch Demokratie. Die Errungenschaften des einzigartigen europäischen Projekts nach dem Zweiten Weltkrieg sind ein fragiles Gebilde, das ständig gepflegt und verteidigt werden muss. Vor dem 24. Februar 2022 schienen das alles staatsragende Allgemeinplätze zu sein. Seither ist die Wahrheit dahinter harte Realität geworden.
Es gibt kein Zurück vor den 24. Februar 2022
Als sicher geglaubte Selbstverständlichkeiten wurden grundlegend infrage gestellt. Das verändert Menschen und die Gesellschaft. In kürzester Zeit sind wir vom Volk der Millionen Fußballnationaltrainer zu einem Volk von Panzerexperten geworden. Dieses zunächst eher scherzhaft gemeinte Bonmot offenbart aber einen sehr viel tiefergehenden Wandel. Nicht, dass Deutschland quasi über Nacht zu einem Land voller Bellizisten geworden wäre – die „Zögerlichkeit“ beweist das Gegenteil, ebenso die nur knappe mehrheitliche Zustimmung zu Panzerlieferungen. Es ist vielmehr Verunsicherung, ein gehöriges Maß Hilflosigkeit gegenüber einer Situation, die man eigentlich für ausgeschlossen gehalten hat. Zudem die Gewissheit, dass es kein einfaches Zurück mehr vor den 24. Februar 2022 geben kann, das Danach aber eine völlig offene Frage ist.
Was wird aus der Idee, dass eng verflochtene Handelsbeziehungen und gegenseitige Abhängigkeiten genau das verhindern könnten, was wir jetzt erleben: einen brutalen Krieg, in dem Menschen sterben, verwundet, verstümmelt werden, Städte und Dörfer in Schutt und Asche gelegt, Menschen- und Völkerrecht mit Füßen getreten werden. Ein Krieg, der auch in seinen Propaganda-Narrativen gespenstisch mittelalterlich wirkt, aber brutale Realität unmittelbar vor unserer Haustür ist. Es stimmt also vieles nicht mehr, was vorher sicher schien. Dass sich Deutschland aufgrund seiner Geschichte mit den Entwicklungen so schwer tut, ist nicht nur nachvollziehbar, sondern gut so.
Deutschland mag im Umgang mit der Auflösung alter Gewissheiten seine besonderen Probleme haben. Den Nachbarn und Partnern im europäischen Friedensprojekt geht es aber nicht grundsätzlich anders. Jedes Land hat seine eigene Folie von Erfahrungen aus dem vorigen Jahrhundert mit zwei Weltkriegen.
Die Angst vor einem Dritten Weltkrieg schwingt mit und ist auch eine Erklärung dafür, dass die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren und Putins Russland nicht gewinnen darf.