Palästinenser und Israelis sind in der Eskalationsdynamik gefangen
Es waren schreckliche Bilder, die uns am vergangenen Wochenende aus Israel erreichten. Ein palästinensischer Terrorist erschoss am Freitag sieben Menschen vor einer Synagoge in Ost-Jerusalem – Gläubige, die am heiligen Sabbat beten wollten. Einen Tag später schoss ein 13-jähriger Palästinenser zwei Israelis nieder. Am Donnerstag hatten israelische Sicherheitskräfte bei einer Razzia neun Palästinenser im Norden des Westjordanlandes getötet – die meisten davon Mitglieder der Terrororganisation Islamischer Dschihad.
Die blutige Spirale der Gewalt in Nahost erreicht einen neuen Höhepunkt. Die bedrückenden Opferzahlen innerhalb weniger Tage erinnern an die Zweite Intifada, den Palästinenser-Aufstand von 2000 bis 2005. Auf der einen Seite steht grenzenloser Hass, auf der anderen Seite eine nie dagewesene Politik der eisernen Faust. Palästinenser und Israelis waren vermutlich noch nie so weit auseinander wie heute. Die extremen Positionen schaukeln sich gegenseitig hoch.
Das gilt zunächst für die Palästinensische Autonomiebehörde. Sie schiebt der israelischen Regierung die Schuld für die Terrorattacken zu – und macht sich damit indirekt zum Komplizen der Attentäter. Morde oder Mordversuche dürfen nie zu einem Mittel der Politik werden.
Vor allem der Gazastreifen hat sich in den vergangenen Jahren immer weiter radikalisiert. An der politischen Spitze stehen Mitglieder der Terrororganisationen Hamas und Islamischer Dschihad. Sie suchen die Konfrontation mit Israel, bauen Bomben und Raketen mit Unterstützung des Mullah-Regimes in Teheran. Doch ein Modell für Modernisierung, wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand haben sie nicht.
Die palästinensische Verwaltung in Ramallah rund um Präsident Mahmud Abbas steht ebenfalls nicht für Fortschritt und Aufbau. Abbas verfügt seit vielen Jahren über keine demokratische Legitimation. Verschlimmert wird die Misere der Palästinenser durch den Bruderzwist zwischen der Hamas im Gazastreifen und der Fatah-Bewegung im Westjordanland.
Aber auch der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu ist Teil der Eskalationsdynamik. Er leitet eine Regierung, in der Siedler-Aktivisten, nationalistische Hardliner und Orthodoxe den Ton angeben. Einige von ihnen wollen das Westjordanland annektieren und die Palästinenser nach Jordanien umsiedeln. Die Wiedererrichtung des biblischen Judäa und Samaria – das heutige Westjordanland – ist ihr Ziel.
So weit rechts stand noch kein Kabinett in der Geschichte Israels. Eine seiner Galionsfiguren ist Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir. Die Armee wollte ihn nicht haben, weil er zu fanatisch war. Seine Partei Otzma Jehudit, Jüdische Stärke, folgt ideologisch der verbotenen Kach-Partei, die Anschlage gegen Araber befürwortete.
Netanjahu konnte sich nur mithilfe dieser extremen Kräfte eine Mehrheit sichern – er ist zu einem großen Teil von ihnen abhängig. Der Religionsforscher Tomer Persico vom Shalom Hartman Institute in Jerusalem kommt zu einem ernüchternden Urteil: „Das sind alles Hardcore-Religiöse.“ Würden sie eine Regierung anführen und auch den Premierminister stellen, „dann wäre Israel bald so etwas wie Iran, eine Theokratie“.
Die Antworten des Sicherheitskabinetts auf die jüngsten Anschläge bringen massive Verschärfungen mit sich, hinter denen sich aber eher Hilflosigkeit verbirgt. Die leichtere Erteilung von Waffenscheinen an Zivilisten wird die Gewalt ebenso wenig eindämmen wie die Streichung der Sozialhilfe für die Familien von Attentätern. Auch wird Netanjahus Ankündigung, neue Siedlungen im Westjordanland und Ost-Jerusalem zu bauen, die Wut der Palästinenser weiter befeuern.
Dabei wäre genau das Gegenteil richtig. Dieser Teufelskreis müsste von beiden Seiten durchbrochen werden. Die Palästinenser müssten sich vom Terror lossagen und Vertrauen zur Regierung in Jerusalem aufbauen: Das ist ihre Bringschuld. Nur unter dieser Voraussetzung wäre Israel am Ende eines Deeskalationsprozesses bereit, über einen Palästinenserstaat zu verhandeln. Und Israel müsste früher oder später ein Angebot machen, das vor allem jungen Palästinensern eine wirtschaftliche Perspektive bietet. Beide Seiten sind jedoch Lichtjahre davon entfernt, auch nur daran zu denken. Für den Nahen Osten bedeutet das nichts Gutes.