In der Ausstellung „ … alles Übrige blieb unsichtbar“ im Museum St. Wendel zeigen Małgorzata Sztremer und Mirjam Elburn, wie man auf unterschiedlichen Wegen ans gleiche Ziel gelangen kann.
Polnische Märchenfiguren wie Baba Jaga, Katzen und fliegende Zuckerdosen bevölkern die Gemälde von Małgorzata Sztremer und lassen den Betrachter in eine surreale Welt eintauchen. In ihrer Malerei, ausgeführt in Öl oder Eitempera auf Leinwand, geht es ihr um die Beziehung vom Körper zum Universum, ihre Figuren brauchen Bezüge zur Umgebung, wie die Künstlerin selbst ausführt. Mit Blick auf die Raumgebilde von Mirjam Elburn resümiert Sztremer, warum sie selbst keine Installationen macht: „Mich interessiert das Sehen in der Fläche, es geht mir um das Medium der Malerei.“ Acht überwiegend kleinformatige Gemälde hat sie für die St. Wendeler Ausstellung ausgewählt, dazu kommen 13 Zeichnungen und neun Gouachen beziehungsweise Aquarelle. Abgesehen von zwei Ausnahmen (Alice und Aschenputtel) bestimmen Hexen das Bildgeschehen. Und Katzen. „Das ist selbstverständlich, denn wo eine Katze ist, ist auch eine Hexe – und umgekehrt“, sinniert Sztremer. Nachdem sich die Künstlerin über eine lange Zeit mit dem Thema „Mutter“ befasst hatte, folgte nun die Hexe. Dabei geht es um eine Rehabilitation der Hexen, denn diese sind für Sztremer nicht das Böse, sondern sie haben eine magische Verbindung zur Natur. Dies macht die Künstlerin insbesondere in Arbeiten wie „Malachit“ und „Azurit“ deutlich. Beide Gemälde hat sie erst im Oktober 2022 während eines interdisziplinären Residenzprogrammes auf Schloss Wiepersdorf fertig gemalt. Hier schätzte sie vor allem den Austausch mit anderen Stipendiaten, denn auf Schloss Wiepersdorf begegnen sich bildende Künstler, Autoren, Komponisten und Wissenschaftler gleichermaßen. Das hat sie als sehr befruchtend für ihre Arbeit empfunden, denn sie diskutiert gern über ihre Bilder, wenn sie noch nicht ganz fertig sind.
Im Gemälde „Azurit“ dominiert die titelgebende intensiv-blaue Farbigkeit sowohl als landschaftliche Hintergrundfolie als auch in über die Bildfläche verteilten Versatzstücken. In der Wahl des Minerals Azurit zeigt Sztremer den Bezug der Hexe zur Natur. Immer ist es diese magische Verbindung der Hexen zu Steinen und zur Erde, die Sztremers Interesse an der üblicherweise traditionell negativ konnotierten Frauenfigur auslöst. Neben vielen weiteren märchenhaften Details schwebt am rechten Bildrand eine verschleierte Frau. Für Sztremer zeigt jeder Schleier gerade das, was darunter ist, vor allem stellt er für die Malerin die Verbindung zur Erde dar. Inspiriert wurde diese Figur von der surrealistischen Malerin Leonora Carrington, genauer gesagt von einem Foto, das Carrington mit einer schwarzen Verschleierung zeigt. Aufgenommen hatte es die surrealistische Fotografin Kati Horna.
„Ich mache keine Illustrationen. Ich möchte die Materialität der Dinge darstellen, wie Seide, Steine, Muscheln oder Holz“, erklärt Sztremer die selbst gesteckten malerischen Aufgaben. Bei dem Gemälde „Baba Silber“ ging es der Malerin – der Titel lässt es bereits vermuten – um die Darstellung von Silber, sei es bei der im Mittelpunkt dominierenden Baba Jaga, die mit rotem Kleid und silberner Rüstung heranrauscht oder auch einer weiteren gesichtslosen Figur mit metallischer Rüstung in der oberen rechten Ecke. „Baba Silber“ ist im ersten Lockdown 2020 entstanden, Sztremer hatte Zeit sich auf malerische Details einzulassen. „Die Pandemie hat die Darstellung der Materialität erst ermöglicht“, blickt Sztremer auf die Entstehung des Gemäldes zurück. Jedes ihrer Bilder hat eine eigene Realität mit konstruierten Figuren. Der Betrachter soll Dinge wiedererkennen, aber es ist der Künstlerin nicht wichtig, dass der Betrachter alle surrealen oder märchenhaften Details der Gemälde entschlüsseln kann.
Leinwände mit Lochzahnmuster
Mirjam Elburns Werke haben mit Märchen und Mythen erst mal nichts zu tun. Sie schickt den Besucher an freudlosen Sichtschutz-Zäunen vorbei, die nichts weiter als urbane Tristesse in einem spanischen Dörfchen in der Nähe von Sevilla darstellen. Die während eines Stipendienaufenthaltes 2018/2019 entstandenen Fotografien von Sichtschutz-Zäunen, die in den Folgejahren um viele „hübsche“ Exemplare aus Frankreich erweitert wurden, sind für Elburn ein „großer Fundus, ein Archiv, das wie eine Erzählung funktioniert“. Aus ihrer mittlerweile fast 200 Fotografien umfassenden Sammlung hat sie jetzt 20 Abzüge ausgewählt, farblich arrangiert und zu zwei Strängen formiert. Die Fotos sind der „Auslöser“ für die weitere künstlerische Beschäftigung mit dem Thema. Elburn hat die Sichtschutz-Zäune, in ein anderes Medium überführt: in eine raumfüllende Skulptur, die aus hintereinander geschichteten, von der Decke herabhängenden Leinwänden besteht, und den Titel „you can’t hide anymore (from/to the inside)“ trägt. Je nach Betrachter-Standpunkt könnte man meinen, die Leinwände seien den Nagezähnen von Mäusen zum Opfer gefallen. Eine zweite textile Arbeit lehnt wie verunfallt in einer hinteren Raumecke, sie trägt den Titel „fragment of a dreamless sleep“ und ist erst vor wenigen Wochen entstanden.
Wenn Mirjam Elburn von Sichtschutz-Zäunen und deren Erhaltungszustand erzählt, wird man unwillkürlich angesteckt von so viel Enthusiasmus und Entdeckerfreude. Obwohl der großen Installation durch die Schichtungen etwas Skulpturales anhaftet, erläutert die Künstlerin, dass sie hier vor allem an der Lösung malerischer Probleme interessiert war. Die ovalen Muster der Leinwände hat sie mit einer Schablone aufgetragen. Hat man dieses Muster nicht schon mal irgendwo gesehen? „Ja, meine Musterschablone ist ein Ausschnitt eines Baustellen-Sicherheitszauns, in orange, wie ihn jeder kennt“, erklärt Elburn. Danach werden die ovalen Formen ausgemalt oder ausgesprüht, anschließend die Muster mit der Nagelschere ausgeschnitten, mal akkurat, mal bleiben bewusst Reste hängen. Jedes Loch ist individuell mit all seinen Fehlern. „Ich entscheide, wo das Stück noch dranhängt“, ergänzt Elburn lachend.
Die SichtschutzZäune sind für Elburn letztlich Metaphern für Strukturen oder Verhaltensmuster im Alltag von Menschen. „Wie unter einem Mikroskop bleibt mein Blick an den Zäunen hängen, sind sie gut erhalten oder bereits zerfleddert? Ich nehme alles analytisch auseinander und füge Dinge neu zusammen“, erläutert Elburn ihre Herangehensweise. Mit der Installation „you can’t hide anymore (from/to the inside)“ fragt die Künstlerin, wer drinnen oder draußen steht. Was ist privat, was ist öffentlich? Und wo steht der Betrachter? Mit der Platzierung der Installation mitten im Raum kann der Besucher diese auch umschreiten und körperlich wahrnehmen. Die erste Fassung der „Lochfraß“-Leinwände, die sie 2019 erstmals für eine Ausstellung in Dortmund entworfen hatte, war noch zweidimensional als ein sich überlagerndes Wandbild konzipiert.
Wer steht drinnen oder draußen?
Formal hat Elburn den SichtschutzZaun auch in andere Medien überführt. Eine bemalte und mit der Nagelschere traktierte Leinwand hat sie nachträglich in Latex getaucht und ihr damit eine Körperlichkeit verliehen. „Die Leinwand hat eine andere Dynamik bekommen, um genau zu sein, eine andere Schwere. Die Leinwand steht noch ein bisschen, fast liegt sie schon, hier ist es definitiv keine Malerei mehr“, erläutert Elburn lachend das „Fragment des traumlosen Schlafes“, der – wie es scheint – in der Ecke zu Fall gekommen ist. Dazu entstehen parallel Aquarelle und Drucke. „Sie haben eine andere Zeitlichkeit, denn für eine Installation brauche ich viel länger. Auch Farbkombinationen kann ich in Drucken meist schneller ausprobieren“, erklärt Elburn ihre Entscheidung für andere Bildträger.
Ein im Jahr 2022 entstandener Linoldruck mit dem Titel „Jimmy“ ist zusätzlich mit einem Seidenpapier versehen. Das Seidenpapier hat sie aus Schuhkartons entnommen, die sie kostenlos von einem Designerladen erhält – von sündhaft teuren Jimmy Choo-Schuhen. Bauzaun paart sich mit Luxusgut.
Das Fragen, Suchen und Thematisieren nach dem nicht vordergründig Sichtbaren ist Mirjam Elburn und Małgorzata Sztremer gleichermaßen ein Anliegen, ebenso das Lösen malerischer Probleme. Ob man die beiden Künstlerinnen – jede für sich mit stringenter, selbst gewählter Art der Umsetzung – unbedingt zusammen in einer Ausstellung sehen muss, bleibt als Frage offen.