Er war Weltmeister, DFB-Teamchef und Sportdirektor in Leverkusen. Nun wird Rudi Völler aus dem Ruhestand Sportdirektor der Nationalmannschaft. Das finden nicht alle gut. Obwohl ihn alle gut finden.
So manch ein genauer Beobachter hat sich in den letzten Wochen mehrfach an die Worte von Rudi Völler beim Rücktritt als DFB-Teamchef im Jahr 2004 zurückerinnert. „Nach so einer sportlichen Enttäuschung kannst du einfach nicht mehr weitermachen“, hatte er mit Blick auf den Schritt nach dem Vorrunden-Aus bei der EM 2004 gesagt. Das sei sogar „kontraproduktiv. Wenn du auf eine WM im eigenen Land zusteuerst, musst du unbefleckt sein. Da kannst du nicht ein solches Negativerlebnis im Rücken haben wie dieses Vorrunden-Aus.“
Völler ist ein Menschenfänger
Für Hansi Flick scheinen diese Worte nicht gegolten zu haben. Obwohl er bei der WM in Katar, seinem ersten Turnier als Bundestrainer, auch in der Vorrunde gescheitert war und obwohl als Nächstes mit der EM 2024 auch ein Heim-Turnier ansteht, wollte und durfte Flick bleiben. Und bekommt nun Völler als neuen Sportdirektor zur Seite. „Wenn ich in der ersten Pressekonferenz nach der Sommerpause gesagt hätte, wir wollen 2006 Weltmeister werden, hätten alle gefragt: Hat der Völler in seiner Karriere zu viele Kopfbälle gemacht? Glaubwürdig konnte das nur ein neuer Mann rüberbringen“, sagte Völler damals auch noch. Als Ziel für die EM 2024 nannte er „um den Titel mitspielen“.
Überraschend an dieser Personalie war die Tatsache, wie sich die Aussagen in ein Fan- und vor allem Social-Media-Lager und eines innerhalb des Fußballs teilen. In den sozialen Medien fielen die Kommentare meist kritisch bis fassungslos aus, irgendwo zwischen „Euer Ernst?“ und der ironischen Feststellung, was diese Entscheidung für einen Fortschritt bedeuten und bringen soll. Und auch der frühere Hockey-Bundestrainer Bernhard Peters – von Völlers Trainer-Nachfolger Jürgen Klinsmann einst zum DFB geholt und im Fußball verblieben – erklärte, der DFB wolle mit dieser Personalie nur Zeit gewinnen.
Aus der engen Fußball-Familie gibt es dagegen ausschließlich warme Worte. „Rudi bringt alles mit, um diese Position bestmöglich auszufüllen“, sagte der frühere Nationalmannschaftskapitän Michael Ballack, der 2002 unter Völler Vize-Weltmeister wurde. Er stehe „für die alte Schule, wenn man das so sagen darf“. Das seien „Werte“ und „Grundeigenschaften“, die den deutschen Fußball über viele Jahre erfolgreich gemacht hätten. „Er kann den DFB auch da wieder beleben, und das ist ganz wichtig, das war immer eine seiner größten Stärken.“ Auch Bayern Münchens Ehrenpräsident Uli Hoeneß, der Völler einst verpflichten wollte, zeigte sich überzeugt, dass Völler zur „Lokomotive“ des deutschen Fußballs wird. „Auf jeden Fall“ sei er der Richtige in der aktuellen Situation. Er habe „Ahnung vom Fußball“ und sei zudem nicht so leicht angreifbar. „Ich glaube, der Hansi Flick braucht jemanden neben sich, der ihm hilft, wenn es mal schwierig wird“, sagte Hoeneß. Für Ex-Nationalspieler Günter Netzer ist Völler schließlich „eine sehr gute Wahl. Alleine kann er das aber nicht herumreißen. Keiner wird so dumm sein, es von ihm zu verlangen. Er allein kann nicht Deutschland retten“. Und auch Ex-Hertha-Geschäftsführer Fredi Bobic, der zwischenzeitlich als Favorit auf den Posten galt, sagte: „Ich bin froh, dass Rudi Völler das macht.“
„Er hat etwas Verbindendes“
Das ist nun interpretierbar. Und auch Völler hat sich nicht um den Job gerissen. „Ich habe erst mal gefragt: Gibt’s denn keinen anderen?“, verriet er bei seiner Vorstellung. Und auch Dortmund-Boss Hans-Joachim Watzke, inzwischen der starke Mann im DFB und im Liga-Verband, gab bei der Frage, wie denn der Findungsprozess abgelaufen sei, Wasser auf die Mühlen der Kritiker. „Wir haben zusammengesessen in der Taskforce, und dann habe ich spontan gesagt: ‚Rudi, das wäre doch was für dich‘. Wir sind ja eher Bauchmenschen, und dann war der Stein im Wasser“, sagte Watzke. Also doch ein unüberlegter Schnellschuss? Watzke sagte aber auch etwas sehr Wichtiges. „Rudi hat eine Eigenschaft, Leute zusammenzuführen. Er hat etwas Verbindendes.“ Von dem Moment an, als er sich bereit erklärte, hätten „alle ein sehr gutes Gefühl“ gehabt. „Rudi ist ein Mensch, in dessen Nähe man sich immer wohlfühlt“, bestätigte Bayern-Boss Oliver Kahn: „Er hat ein gutes Gespür für den Fußball, für Menschen, für einzelne Charaktere.“
Ist Völler nun also die richtige Wahl oder nicht? Auf diese Frage wird es vielleicht nicht mal nach seiner bis nach der EM 2024 limitierten Amtszeit eine klare Antwort geben. Weil es doch sehr deutliche Argumente dafür und dagegen gibt, die sich beidseitig nicht in Luft auflösen werden und von Kritikern wie Befürwortern nicht missachtet werden können. Negativ bleibt, dass dies eine rückwärtsgewandte Entscheidung ist. Völler steht für die Vergangenheit, ist 62 und hat sich im vergangenen Sommer aus dem operativen Geschäft beim Bundesligisten Bayer Leverkusen zurückgezogen. Er galt nie als Reformer oder Erneuerer, ist nicht auffällig als Förderer des Frauen- und des Nachwuchs-Fußballs in Erscheinung getreten. Aber er ist auch nur „Sportdirektor Nationalmannschaft“. Dennoch bleibt die Vermutung, dass der DFB durch diese Personalie wieder anderthalb Jahre verliert auf dem wichtigen Weg der Reform in vielen Bereichen.
Positiv steht eindeutig die Persönlichkeit Völlers. „Tante Käthe“, wie er wegen seiner Locken genannt wird, ist beliebt wie in Fußball-Deutschland sonst nur Franz Beckenbauer in guten Zeiten oder Uwe Seeler. Schon laut eines Songs, den die Fans so sangen, dass der Gehuldigte es irgendwann nicht mehr hören konnte, gibt es „nur ein Rudi Völler“. Er kann mit seiner Art Konflikte auflösen und Menschen zusammenbringen. Er wolle mehr Nähe zu den Fans suchen, ohne dabei „scheinheilige“ Ad-hoc-Aktionen zu planen, sagte der Nachfolger des wegen seines oft auf Marketing gerichteten Ansatzes kritisierten Oliver Bierhoff. Gleichzeitig hat er ein sehr gutes Gespür für falsch laufende Dinge und scheut sich auch nie, Unangenehmes an den entscheidenden Stellen anzusprechen. Zudem hat er in Leverkusen das Mittel der Ablenkungsmanöver perfektioniert. Wenn es bei Bayer lief, sah und hörte man Völler kaum. Gab es bittere Niederlagen oder schwierige Entwicklungen, stand er Sekunden später vor den Journalisten und zog die Aufmerksamkeit entweder auf sich oder polterte über Schiedsrichter, Experten oder andere Dinge, die von Bayers Problemen ablenkten. Gleich bei seiner Vorstellungs-Pressekonferenz beim DFB kritisierte er Innenministerin Nancy Faeser für manchen Auftritt in Katar. Etwas, was sich beim DFB zuvor niemand getraut hatte.
Völler beherrscht das Spiel mit den Medien
Gerade diese Eigenschaft könnte beim DFB noch sehr wichtig werden. Denn – und so schließt sich der Kreis – Völler musste nach 20 Jahren zurückkommen, um Flick aus der Situation zu befreien, in der er selbst damals zurückgetreten war. Denn der Bundestrainer, der mit dem FC Bayern 2020 historische sechs Titel gewann, hat bei der WM und danach auch Fehler gemacht. Die meisten sind wohl auf Harmoniesucht zurückzuführen. Er nominierte den manchmal unbequemen Mats Hummels nicht, obwohl das leistungsmäßig gerade gegenüber seinen Dortmunder Vereinskollegen Niklas Süle und Nico Schlotterbeck nicht zu rechtfertigen war. Er nutzte die Vorbereitungswoche im Oman nicht zum Einspielen taktischer Nuancen und überredete Joshua Kimmich erst vor dem letzten Gruppenspiel zum Wechsel auf die rechte Abwehrseite, wo er bitter benötigt wurde. Im Zentrum herrschte dadurch ein Überangebot und weil er neben Kimmich auch Leon Goretzka und Ilkay Gündogan zufriedenstellen wollte, wechselte er beim 1:2 gegen Japan den Sieg aus. Kurios: Direkt nach dem Ausscheiden monierte Flick die mangelnde Nachwuchsarbeit in Deutschland. Dabei war er selbst von 2014 bis 2017 Sportdirektor des DFB und genau auf der Position, auf der er Dinge hätte anstoßen können, die 2022 bei der WM hätten greifen können. So klang es, als habe er mit alledem nichts zu tun.
Flick ist natürlich trotzdem kein schlechter Trainer. Auch sind die Spieler nicht gänzlich von ihm abgerückt. Er muss und wird aus seinen Fehlern lernen. Und hat nun Völler als erfahrenen Ratgeber und Prellbock an seiner Seite. Ob der DFB nachhaltig von dieser Kombination profitieren wird, wird sich zeigen. Mit Blick auf die EM 2024 im eigenen Land könnte das dennoch eine Kombination sein, die zum Erfolg führt. Zumal noch ein Sportdirektor geholt werden soll. Als Favoriten gelten die drei 2014er-Weltmeister Per Mertesacker, Sami Khedira und Benedikt Höwedes. Die den DFB dann nach Völlers Ausscheiden 2024 endgültig in die Zukunft führen können.