Mit der Ansiedlung von Wolfspeed macht das Saarland einen Sprung in die Industrie der Zukunft. Die Standortentscheidung war für viele eine Überraschung. Der zweite Blick zeigt, dass es alles andere als ein Zufallscoup war.
Zu einem großen Projekt gehört eine große Erzählung. Der Bau der weltweit größten Fabrik für Siliziumkarbid-Halbleiter im saarländischen Ensdorf hat gleich eine ganze Reihe solcher Erzählungen zu bieten. Dafür brauchte es keine kreativen Agenturköpfe. Es reicht ein Rundumblick von dem Gelände aus, auf dem das Megaprojekt von Wolfspeed realisiert werden soll, um einen Eindruck von dem zu gewinnen, was Bundeskanzler Olaf Scholz als neue industrielle Revolution bezeichnete.
Erzählung Nummer eins liefert die Kohle
Der Standort selbst drängt die Bilder auf. Ein großes weißes Zelt, halb Festzelt, halb internationales Medienzentrum, am Fuß eines imposanten Kühlturms, dessen Tage nun gezählt sind. Industrielle Halbleiter-Zukunft auf dem Boden fossiler Vergangenheit.
Deren anderes sichtbares Symbol ragt am anderen Ende der Gemeinde Ensdorf unübersehbar auf einer Bergehalde über das Saar-Tal: Das Saarpolygon, eine riesige eiserne Landschaftsskulptur, erinnert an die große Bergbautradition des Landes. Die ist vor gerade erst gut einem Jahrzehnt mit der Förderung der letzten saarländischen Steinkohle aus der letzten saarländischen Grube – eben in Ensdorf – zu Ende gegangen.
Erzählung Nummer zwei liefern Kanzler und Vizekanzler
Der Schauplatz liegt zwar nicht in unmittelbarer Sichtweite, aber nur gut zehn Autominuten weiter auf dem Saarlouiser Röderberg. Bundeskanzler Ludwig Erhardt hatte sich persönlich dafür stark gemacht, dass Ford dort ein Werk baut. Die Investition sollte dem Saarland helfen, in eine neue industrielle Ära zu starten. Der Enkel des Firmengründers, Henry Ford II, lobte das neue Werk in Saarlouis als „eines der schönsten Ford-Werke der Welt“. Auch das ist Geschichte, seitdem sich der Ford-Konzern im letzten Jahr gegen Saarlouis und für Valencia entschied. Das Saarland steht als Autostandort mit seiner großen Abhängigkeit vom Verbrenner vor tiefgreifenden Veränderungen.
Jetzt lässt es sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nicht nehmen, bei der Präsentation von Wolfspeed in Ensdorf persönlich dabei zu sein, samt Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Sicher war es auch ein schöner Fototermin, trotzdem hatte der Auftritt des Kanzlers etwas von einem Arbeitsbesuch. In Ensdorf geht es um die Transformation der Saar-Wirtschaft und gleichzeitig um eine Entscheidung mit sehr viel weiter reichenden Dimensionen.
Erzählung Nummer drei handelt von Europa
Die saarländische Geschichte war lange geprägt von der Rolle als permanenter Zankapfel zwischen den einstigen „Erbfeinden“ Frankreich und Deutschland. Die strategische Lage und die begehrte Kohle führten dazu, dass das Land in schöner Regelmäßigkeit mal dieser, mal jener Seite zugeschlagen wurde. Erst die Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg samt Volksabstimmung führten zu dem Gebilde, das das Saarland jetzt ist. Der Elysée-Vertrag, das Freundschaftsdokument der einstigen Feinde, feiert gerade sein 60-jähriges Jubiläum.
Das Saarland versteht sich als französischstes aller deutschen Bundesländer und gleichermaßen als das europäischste, aber seit dem Niedergang der Montanindustrie auch irgendwie immer (um ein geflügeltes Wort zu zitieren) „im Herzen Europas, am Arsch der Welt“. Dieser Spruch dürfte spätestens jetzt reif für die Mottenkiste sein. Die Chip-Fabrik von Wolfspeed ist ein wichtiger Baustein in der EU-Strategie, die gekennzeichnet ist durch das Kürzel IPCEI („Important Project of Common European Interest“). Es beschreibt zentrale Projekte, die aus gemeinsamem europäischem Interesse gefördert werden – für Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit im globalen Rahmen. Es geht ebenso um mehr Unabhängigkeit von Lieferketten und um den Green Deal. Dazu gehört auch der Umbau zu einer CO2-freien Stahlproduktion mit grünem Wasserstoff. Für die Standortentscheidung von Wolfspeed war unter anderem wohl entscheidend, dass das Saarland Strukturwandel wie kaum sonst jemand kann, mit einem Erfahrungshintergrund, der sozusagen regionaler Markenkern ist. Die Halbleiterproduktion wird das einmal mehr deutlich unterstreichen. Es ist kein zufälliger Einzelcoup, der dem Land jetzt gelungen ist. Die Transformation der bisher stark vom Automobil mit Verbrennermotor abhängigen Wirtschaftsstruktur mit vielen großen und kleineren Zulieferern ist schon lange im Gang, ohne dass dies regelmäßig zu ganz großen Schlagzeilen geführt hätte. Zuletzt hatte der Weltkonzern ZF für Aufmerksamkeit gesorgt mit der Entscheidung, den Standort Saarbrücken zum Leitwerk für die elektromobile Zukunft zu machen. Das Joint Venture mit Wolfspeed bedeutet eine doppelte Stärkung des Standortes. Diese schon längst initiierte Transformation und die dabei entwickelten Instrumente dürften künftig auch das Interesse weiterer Investoren für den Standort wecken oder befördern. Wolfspeed ist sicherlich eine Leitinvestition, der noch viele weitere folgen müssen, um die tiefgreifende Transformation insgesamt erfolgreich hinzubekommen. Für die Folgenutzung des Standortes Saarlouis (Ford) besteht bereits Interesse.
Es geht für das Saarland aber auch darum, sich insgesamt breiter aufzustellen. Denn allzu starke Abhängigkeit von einer Branche macht eben auch anfällig. Der Küchenhersteller Nobilia ist ein prominentes Beispiel für eine Ansiedlung aus einer ganz anderen Branche – bei der übrigens bereits die Frankreichstrategie des Landes, aber auch die Lage als extrem gut angebundenes Drehkreuz im Herzen Europas eine Rolle gespielt haben.
Dass der Wettbewerb immer härter wird, braucht Landeswirtschaftsminister Jürgen Barke nicht eigens zu betonen. Es mag jetzt etwas bessere Voraussetzungen geben, die Qualitäten des Landes herauszustellen. Bisher hatten Länder wie Baden-Württemberg und Bayern schon wegen ihrer größeren Möglichkeiten und die Ost-Länder mit anderen Fördermöglichkeiten einen Vorteil – den Underdog Saarland hatte man kaum aufder Liste. Das dürfte sich ändern, aber, um Minister Barke (siehe Interview S. 26) zu zitieren: Ein Selbstläufer ist das nicht.