Immer mehr Kinder lesen nicht mehr gern Bücher. Dagegen möchte Ursula Frommholz etwas tun. Die Vorsitzende des Berliner Vereins Lesewelt bringt ihnen zusammen mit anderen Ehrenamtlichen die bunte Welt und das haptische Erleben näher.
Die Volkshochschule (VHS) in Berlin-Moabit hat ihre Räumlichkeiten in einem mächtigen, grauen Bau an der Turmstraße. Diese Straße ist nun wahrlich keine Edelmeile, sondern eine vierspurige Durchgangsstraße mit einem geradezu kümmerlichen Grünstreifen in der Mitte, gesäumt von Dönerbuden, Frisören, Secondhand-Läden, Tabak- und Schnapsläden und Lebensmitteldiscountern. Das Angebot der VHS, das teilweise in Schaukästen an den verschiedenen Eingängen ausgehängt ist, wirkt in diesem Umfeld fast wie ein Bollwerk gegen eine zunehmende Verwahrlosung, die in vielen Bezirken der Hauptstadt all jenen auffällt, die mit offenen Augen und Ohren durch die Stadtteile gehen. Deutschkurse, Anti-Gewalt-Training, Singen im gemischten Chor – um Bildung, Aufklärung und lebendige, gemeinsam erlebbare Kultur geht es hier, denn von all dem gibt es viel zu wenig, nicht nur in den Problembezirken wie Moabit, Wedding oder Neukölln.
In dem beeindruckenden Gebäude in Moabit hat auch der Verein Lesewelt Berlin sein Büro, aber das liegt ein wenig versteckt, sei es aus Raumnot oder falscher Bescheidenheit. Jedenfalls muss man lange suchen. Aber das passt, denn es ist auch eher ein Zufall, wenn jemandem im Vorbeigehen ein Plakat an der Eingangstür seiner Stadtteilbibliothek ins Auge fällt. Man muss zweimal hinschauen: „Vorlesen für Kinder!“. Zu wenig wirklich auffallende Werbung. Leider, das alles muss noch besser werden.Hinter all dem steckt als Vorstand und Projektleiterin des Vereins Lesewelt Ursula Frommholz, eine lebendige und zupackende 59-Jährige, die sich energisch für die Idee und Verbreitung des Konzeptes einsetzt und dafür wirbt. Seit dem Jahr 2000 werden für Kinder zwischen vier und zwölf Jahren in ganz Berlin Vorlesestunden organisiert, in denen Ehrenamtliche wöchentlich in Bibliotheken oder Kindertagesstätten vorlesen. Ihr Ziel: bei Kindern die Freude am Lesen zu wecken, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern und sie beim Lesenlernen zu unterstützen.
Wollte Bäckerei übernehmen
„Was Hänschen nicht lernt, das lernt der Hans nun nimmermehr!“: So lautete in früheren Zeiten ein pädagogischer Grundsatz, und es scheint, als bewahrheitete sich diese Mahnung schon in der frühen Kindheit von Ursula Frommholz. Im kleinstädtischen Minden in Ostwestfalen wuchs sie als Jüngste von drei Geschwistern auf; die Mutter Einzelhandelskauffrau, der Vater Bäckermeister. Ein harmonisches Familienleben, die Bäckerei, der Laden, die Wohnung, alles unter einem Dach. Wie gern hätte es der Vater gesehen, dass die ganze Familie in der Bäckerei arbeitet, aber es war die in Polen geborene Mutter, für die Bildung ganz allgemein und im Besonderen für ihre Kinder eine herausragende Rolle spielte. Wegen ihres Akzents fiel sie in Minden auf, Respekt und Achtung erfuhr sie hierzulande nur, wenn sie das eher abschätzige Klischee der Deutschen gegenüber den Osteuropäern überwand. Gebildet sein, die Sprache beherrschen, ihren Kindern diese Perspektive weisen, an diese Ziele erinnert sich Ursula Frommholz ebenso warmherzig wie an die Reisen durch Italien, Frankreich und den ganzen Süden Europas, den der Vater mit Familie, Wohnwagen und Zelt jährlich unternahm. Für die Kinder immer dabei: ein Kinderbuch, aus dem die Mutter und ihr Bäcker den Kindern vorlasen. Astrid Lindgren und die Bullerbü-Geschichten waren für die kleine Ursula ebenso eine unauslöschliche Erinnerung wie das Buch mit den „365 Gute-Nacht-Geschichten“, aus dem jeden Abend vorgelesen wurde.
Eigentlich hätte Ursula Frommholz gern die Bäckerei übernommen, aber der ältere Bruder ging vor. Durch die vielen Reisen mit den Eltern interessierte sie sich aber auch für Tourismus. Deshalb ging sie nach dem Abitur nach Berlin, wo sie 1982 an der Freien Universität Betriebswirtschaftslehre studierte, um dieses Fach dann durch das Aufbaustudium Tourismus zu ergänzen.
Das Geld war in dieser Zeit knapp. Sie musste nebenbei jobben, wie viele andere Studenten auch, und so landete sie über Umwege schließlich in der Marktforschung. Tourismus ade, nun waren es endgültig die Marktforschung und wechselnde Aufgaben bei Pharmaunternehmen, Verlagen und in der Medienbranche.
Zur Lesewelt kam sie durch Zufall
Irgendwann aber fragte sie sich – wie alle, denen Geld verdienen nicht alles ist und die eine befriedigendere Aufgabe in ihrem Leben suchen – ob sie sich nicht sozial engagieren soll. Ursula Frommholz hatte den Wunsch, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Wer ihr zuhört, wie sie auf ihr Leben zurückschaut, der spürt sehr schnell, dass sie nicht zu jenen gehört, die ihr Gutmenschentum wie eine Monstranz vor sich her tragen. Sie ist aus anderem Holz geschnitzt. Nicht reden, sondern machen. Schauen, woran es fehlt. Anpacken! Schon im Verlagswesen und der Medienbranche hatte sie sich mit dem Leserschwund beschäftigt und war erschüttert von den Ergebnissen der Pisa-Studie und den zementierten, ungleichen Chancen im Bildungssystem, sodass die Förderung von benachteiligten Kindern ihr ein besonderes Anliegen war, erst Recht, da sie selbst keine Kinder hatte.
Durch Zufall lernte sie die Gründerin der Lesewelt in Berlin kennen. Die forderte sie nach kurzer Zeit auf, sich in diesem Kreis zu engagieren, neue Ideen, moderne Organisationsstrukturen und zeitgemäßes Marketing zu entwickeln und so stieg sie 2007 ein und wurde schnell in den Vorstand gewählt. Zehn Jahre später hängte sie ihren eigentlichen Job an den Nagel und wurde hauptamtlich als Projektleiterin bei der Lesewelt angestellt. Ursula Frommholz ist ziemlich stolz auf diesen Werdegang. Man sieht es ihr an. Wenn sie über die Aufgaben und Ziele des Vereins spricht, dann funkeln die Augen hinter ihrer Brille, sie gestikuliert – und nein, sie spricht nicht, es sprudelt aus ihr heraus. Und es fällt ihr immer noch etwas ein, was man machen, was man verbessern könnte.
Wer sich beim Verein Lesewelt ehrenamtlich engagieren will, kann sich per Online-Fragebogen bewerben und wird dann zu einem persönlichen Vorstellungsgespräch von Ursula Frommholz eingeladen. Nichts geht ohne ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis und mehrmaligem Probelesen vor einer Kindergruppe unter Anleitung eines erfahrenen Lesepaten. Das ist sinnvoll, schafft Vertrauen und wird von den Bewerbern akzeptiert. 400 Bürger melden sich pro Jahr für dieses Ehrenamt. Erfreulich, aber nicht jeder kommt infrage.
Die Kinder bringen oft selbst Bücher zur Lesestunde mit
Die Kinder, die die Vorlesestunden besuchen, machen zumeist von sich aus Buchvorschläge, sie schleppen Bilderbücher und Märchen, „Lauras Stern“ und Pippi Langstrumpf ebenso an wie Neuerscheinungen. Gemeinsam wird festgelegt, was zunächst gelesen wird. Jedes Kind hat eine eigene Vorlesekarte und für jede Lesestunde gibt es einen Stempel. Zehn Einträge müssen und werden belohnt durch ein Buchgeschenk des Vereins. Das erhöht die Bindung des Kindes an die Vorlesestunden und ermuntert zum eigenständigen oder gemeinsamen Weiterlesen mit den Eltern zu Hause. Aber nicht nur die Kinder sowie Mamas und Papas profitieren von den Angeboten des Vereins. Auch die Ehrenamtlichen, die aus allen Schichten kommen, aus unterschiedlichen Berufen und die jung und alt sind, erfahren Glück und Zufriedenheit. Denn eigentlich ist es sehr einfach, Kinder zum Staunen zu bringen und ihnen eine Freude zu machen.
Aber es geht um mehr. So enthusiastisch Ursula Frommholz ist, so bescheiden ist sie auch. Große Worte sind nicht ihre Sache. Dennoch muss man es deutlich aussprechen: Es geht im Kern um ein kulturelles Erbe. Sich die Neugier und Fähigkeit zu erhalten, in traditioneller Weise aus Buchstaben Bilder und Fantasien wachsen zu lassen. Aus einem Buch zu lesen, Seiten umzublättern, das ist nicht nur ein haptisches Vergnügen, sondern es schult Nachdenklichkeit und Geist, lässt Hunderte Blumen der Fantasie sprießen und bunte Bilderbögen spannen.
Mittlerweile, so Ursula Frommholz, scheuen viele Kinder das Lesen, neue Medien wie Youtube oder Instagram machen die Welt schneller, bunter, eindeutiger. Dagegen ist das Lesen schwierig. Es fordert das Gehirn, erfordert Geduld, und Erkenntnisse ploppen so einfach nicht nach zehn Sekunden auf (unterstützt durch ein akustisches Signal). Ursula Frommholz macht sich keine Illusionen. Es gibt Kinder und Eltern, die nicht richtig lesen können. Sie werden durch Kitas und Schulen nicht erreicht. Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund haben es hierzulande wirklich schwer, wenn sie die deutsche Sprache nicht hinreichend beherrschen. Manche Lehrer und Erzieher haben resigniert und wissen nicht mehr wirklich, wie und womit sich Kinder aus bildungsfernen Schichten beschäftigen sollen – egal, ob von hier oder aus anderen Herkunftsländern.
Gerade deshalb entwickelt Ursula Frommholz die Kraft, all dem entgegenzusteuern. Sie kann da ganz entschieden auftreten. Neben ihrer charmanten, weichen und überzeugenden Seite hat sie auch eine ganz entschieden kämpferische: „Wir machen ein Zusatzangebot!“
Applaus und Zuwendungen von Stiftungen, Firmen und dem privaten Förderkreis gab und gibt es. Man bettelt nicht, man wurschtelt sich planmäßig durch, es könnte mehr sein, immer. Was aber ist mit der Politik, mit all ihren wohlklingenden Phrasen? Was wird aus den Versprechen der Verantwortlichen für Bildung und Familie, was folgt aus all den Versprechen?
Nichts! Für die Lesewelt gibt es keinerlei finanzielle Unterstützung vom Berliner Senat. Dies sei Aufgabe der einzelnen Bezirke. Und die fühlen sich nicht zuständig. Man schiebt sich also die Angelegenheit gegenseitig zu. So ist es schon immer in Berlin und vermutlich auch anderswo. Hier wurden gerade die Wahlen wiederholt. Schaute man sich die Wahlplakate an, so war von Bildung, von dem verrotteten Schulwesen kaum die Rede. Wie gut, dass es wenigstens Ursula Frommholz, die Lesepaten und ähnliche Initiativen gibt. Sie sind: Helden des Alltags.