Vier Jahre lang hat Fotograf Gregor Sailer surreal wirkende Bilder an unwirtlichen Orten gemacht – zu sehen ist sein Projekt „Polar Silk Road“ jetzt in der Berliner Alfred-Erhardt-Stiftung.
Winzige rosarote Formen scheinen in der Ferne, in einer schier endlos wirkenden weißen Weite zu schweben. Erst wenn man das Foto aus geringerem Abstand betrachtet, lassen sich die Objekte als zeltähnliche Strukturen erkennen, die eine schwarze kuppelähnliche Konstruktion einrahmen.
„East Grip XXI“ – so lautet der Titel der Aufnahme des österreichischen Fotografen Gregor Sailer und bezieht sich auf ein wissenschaftliches Bohrprojekt im Nordosten Grönlands, an dem zwölf Nationen beteiligt sind – für Deutschland ist hier das Alfred-Wegener-Institut aktiv. Das Foto ist Teil des Projekts „Polar Silk Road“, für das Sailer über vier Jahre hinweg eine ganze Reihe von Orten am Nordpolarkreis besucht hat. Orte, die für die Öffentlichkeit nicht oder nur sehr schwer zugänglich sind – von militärischen Einrichtungen über halb verlassene Siedlungen der Inuit bis hin zu Forschungsstationen oder Produktionsstätten. Der Begriff „Polar Silk Road“, der an die seit der Antike genutzte Handelsstraße von China über Zentralasien in den Mittelmeerraum erinnert, stamme aus der chinesischen Arktis-Politik und sei seit 2018 im Umlauf, erzählt Sailer und verweist auf mehrere Karten der Region, die er zu seinem Projekt angefertigt hat. Eindrucksvoll zeigen diese, dass künftig gleich mehrere Handelsrouten auf dem Land- oder Seeweg durch das Polargebiet führen könnten, schließlich ist mit anhaltendem Klimawandel ein langsamer, aber stetiger Rückzug des Eises zu erwarten. Schätzungen zufolge könnte die Nordostpassage zwischen Asien und Europa schon 2035 ganzjährig befahrbar sein. Für Containerschiffe wäre das eine wesentlich kürzere Route als die durch den Suez-Kanal. Die von Gregor Sailer erstellten Karten machen mit ihren vielen Markierungen in mehreren Farben aber auch deutlich, welche Spuren der Mensch in dieser unwirtlich scheinenden Umgebung bereits hinterlassen hat und wo es teilweise schon seit Jahrzehnten Militärstützpunkte oder Forschungseinrichtungen gibt.
Menschliche Spuren in unwirtlicher Umgebung
Solche der rauen Umgebung trotzende Orte und Gebäudekomplexe hat Gregor Sailer in den Ländern entlang des Nordpolarkreises besucht – mit Ausnahme von Russland, denn eine Genehmigung für einen Besuch beispielsweise an der Barentssee zu bekommen, sei schon vor dem Angriff auf die Ukraine unmöglich gewesen. So reiste Sailer vor allem nach Norwegen und Island, nach Grönland und in die Northwest Territories in Kanada. Die Vorbereitungen für die einzelnen Recherchen seien extrem aufwendig gewesen, erzählt der Fotograf, galt es doch, von den jeweils federführenden Forschungseinrichtungen oder dem Militär des betreffenden Landes die Genehmigung für den Besuch von Radarstationen oder Geothermal-Kraftwerken, von verwaisten Bohrinseln oder gerade auf den arktischen Boden gesetzten Aluminiumschmelzen zu erhalten. Zudem ging es Sailer nicht darum, „Lost Places“ zu porträtieren, vielmehr ging es ihm um Orte, die inhaltlich und visuell ein breites Spektrum anzubieten hatten. Und das Licht war ihm für seine Aufnahmen wichtig, das polare Zwielicht, das die meisten dargestellten Objekte noch einmal besonders unwirklich erscheinen lässt.
Als ob ihre bloße Existenz es nicht schon wäre. Gregor Sailer ist es beispielsweise gelungen, Aufnahmen in einem ehemaligen unterirdischen Nato-U-Boot-Bunker bei Tromsø in Norwegen zu machen, fast wie eine Szenerie aus einem James-Bond-Film kommt der in den Fels gehauene lang gezogene Saal daher. Grünlich schimmert das Wasser im Kontrast zu den weißen mit Betonstreben verstärkten Bunkerwänden, ästhetisch und bedrohlich zugleich. 1967 – mitten im „Kalten Krieg“ – hatte Norwegen die Olavsvern Naval Base eröffnet, für die man bei Tromsø in einen Berg gewaltige unterirdische Docks, Kommando- und Wohnräume gesprengt und gebohrt hatte – mit einer Gesamtfläche von 25.000 Quadratmetern. 2009 wurde die Einrichtung aufgegeben, wurde seitdem zivil, in letzter Zeit aber auch wieder für militärische Zwecke genutzt. Denn längst, das zeigt das Foto-Projekt „Polar Silk Road“ eindringlich, haben die Bemühungen um Einflussnahme in einer der unwirtlichsten Regionen der Welt an Fahrt aufgenommen. Nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich.
Orte wie aus einem James-Bond-Film
Unter der langsam abnehmenden Eisdecke liegen Bodenschätze in großer Menge, Metallerze, Öl, Gas und andere Rohstoffe. Längst haben sich Unternehmen in Stellung gebracht, unter anderem in Island, wo Geothermal-Kraftwerke eigens in die karge Landschaft gebaut wurden, damit sie den Strom für Aluminiumschmelzen oder die Verarbeitung von Silizium liefern können. All das hat Sailer dokumentiert – rosa leuchten bei ihm die bienenwabenähnlichen Kleinkraftwerke im Kontrast zur weiß-grauen Landschaft: futuristisch anmutende Objekte im Eis. Anders hingegen eine aufgegebene Bohrinsel im Ozean bei Tuktoyaktuk oder kurz „Tuk“, der zweitnördlichsten Siedlung in Kanada. Wie eine futuristische Festung liegt die metallene achteckige Konstruktion im Wasser, auf Sailers Fotos ist sie halb mit Eis überzogen, ein unwirklicher Anblick. Die 900-Einwohner-Siedlung Tuk war aber auch Teil des sogenannten „North Warning Systems“, einer Kette von Radarstationen in Kanada und in den USA. Mit ihren weißen Kuppeln heben sich diese auf Gregor Sailers Fotos oft kaum von ihrer Umgebung ab, scheinen bei entsprechenden Lichtverhältnissen fast mit ihr zu verschmelzen.
Mit dem Kontrast zwischen Architektur und Landschaft hingegen spielen Aufnahmen aus Grönland, wo Sailer aufgegeben wirkende Hangars und Armeeunterkünfte fotografiert hat. Die metallenen Strukturen heben sich in sattem Rotbraun deutlich von der stark verschneiten Umgebung ab, fast übersieht man den kleinen Grill vor dem wuchtigen Gebäude: eine Andeutung von Alltagsleben an einem vielleicht nur verlassen wirkenden Ort.