Der Krieg in der Ukraine hat Europa verändert und wird Europa weiter verändern. Neben Green Deal und Transformation wachsen Europa neue Verantwortungen zu.
Europa ist in Krisen in der Regel immer für Überraschungen gut und am Ende an Krisen gewachsen, auch wenn es zuweilen ziemlich an den Nerven gezerrt hat. Dass es auch jetzt so ist, dafür gibt es keine Gewähr. Sicher ist, dass der Krieg unmittelbar an der eigenen Grenze Europa mehr verändern wird, als es frühere Krisen vermocht hatten.
Das lässt sich in dieser Allgemeinheit unschwer feststellen. Aber zu sagen, wo Europa nach einem Jahr Krieg wirklich steht und wohin es sich weiter entwickeln wird, ist durchaus nicht so ganz einfach.
Bestand die anfängliche Unterstützung der Ukraine noch in der vielbelächelten Lieferung von Helmen, laufen inzwischen Vorbereitungen zu Panzer-Lieferungen und die Diskussion über Flugzeug-Lieferungen ist in vollem Gange. Das alles in einem Europa, das sich vor allem als großes Friedensprojekt verstanden hat.
EU muss sich neuen Aufgaben stellen
Die Bereitschaft, die Ukraine „mit allem, was nötig ist" und „solange es nötig ist", zu unterstützen, wird gerade jetzt zum ersten Jahrestag des Krieges unablässig wiederholt. Gleichzeitig stößt die „Zögerlichkeit", die insbesondere Kanzler Olaf Scholz nachgesagt wird, auf öffentliche Kritik. Das wiederum ist eine eher einseitige Betrachtungsweise, die nicht zuletzt aus den Erklärungslücken, die der Kanzler oftmals lässt, herrühren mag.
Es ist das Dilemma, dass es sich bei dem Krieg in der Ukraine nicht „nur" um einen territorial begrenzten Krieg handelt, sich der Angriff vielmehr auch gegen „den Westen" richtet. Und das ist nicht nur geografisch und machtpolitisch gemeint, sondern auch systemisch und trifft den Nerv von Wertvorstellungen. In Putins Russland wurden und werden nicht nur Kritiker des Systems und des Krieges ins Gefängnis und in Straflager gesteckt, Menschenrechtsorganisationen aufgelöst und queere Menschen unter zunehmend schärferen Druck gesetzt. Russland sieht sich im Kulturkampf gegen den „verdorbenen Westen", der, wieder und wieder forciert vom einflussreichen Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche, Kyrill I., patriotische Kriegsbegeisterung befeuert. Eine Gemengelage von Bedrohung, die gleichzeitig deutlich macht, dass die Begehrlichkeiten Russlands keineswegs in der Ukraine enden.
Die Anrainerstaaten wissen das schon lange. Ihre tiefe Verärgerung, dass ihre Sorgen zuvor in Brüssel und den westlichen EU-Mitgliedsstaaten nicht mit dem nötigen Ernst wahrgenommen wurden, ist inzwischen mehr als nur nachvollziehbar.
Dass Länder wie insbesondere Polen jetzt außerdem in der Flüchtlingsfrage eine so andere Rolle übernehmen als bei der Krise 2015/16, hat ebenfalls für eine andere Wahrnehmung gesorgt. Dass sich Gewichte innerhalb der Gemeinschaft verschieben, ist klar, weil die Bedrohung klar ist. Sicher werden weder die Ukraine noch Moldawien in den nächsten Jahren EU-Vollmitglieder, aber es ist davon auszugehen, dass angesichts der Situation versucht wird, für beide eine kreative Variante der Einbindung zu entwickeln. In der Folge wird man auch nicht umhinkommen, die etwas verfahrene Lage um den Beitritt der West-Balkan-Länder zu lösen.
Eine Erweiterung wird dabei mit inneren Reformen einhergehen müssen. Das gilt für Kompetenzverteilungen ebenso wie für den Modus von Entscheidungsfindungen, sprich das Einstimmigkeitsprinzip, das noch in vielen essenziellen Themen gilt. Vorschläge, wie es so modifiziert werden könnte, dass kleine Mitgliedsländer nicht die Sorge haben müssen, von größeren dominiert zu werden, liegen längst auf dem Tisch.

Dass der EU mehr Aufgaben zuwachsen, auch notwendigerweise müssen, hat sich schon in der Pandemie ergeben, Stichwort Impfstoffbeschaffung. Das hat offenbar – trotz aller Kritik – so funktioniert, dass jetzt überlegt wird, das als Modell für Waffenbeschaffung zur Unterstützung der Ukraine ähnlich zu gestalten.
Sollte der russische Präsident Putin, wie angenommen wird, bei seinem Angriffskrieg darauf gesetzt haben, dass die EU der 27 aus berühmter innerer Uneinigkeit handlungsunfähig wäre und/oder sofort unter der Last von großen Flüchtlingszahlen zusammenbrechen würde, hat er sich nicht nur verkalkuliert, sondern sogar das genaue Gegenteil erreicht.
Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass gerade Victor Orbán in Ungarn weiter seine Rolle spielt. Die EU hat trotz aller anderen Herausforderungen im vergangenen Jahr die anhängigen Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Polen und Ungarn weiter verfolgt. Die für Werte zuständige EU-Vizekommissionspräsidentin Vera Jourova betonte, während der russische Präsident auch gegen Demokratie und Menschenrechte zu Felde ziehe, könne die EU „nur dann glaubwürdig sein, wenn in unserem eigenen Haus Ordnung herrscht".
Doch die EU hatte schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine ehrgeizige Ziele formuliert, insbesondere den „Green Deal" (Klimaneutralität bis 2050). Spätestens mit der Pandemie und den Erfahrungen unterbrochener Lieferketten und dann dem Krieg stehen stärker als zuvor Projekte im Vordergrund, die die EU unabhängiger machen sollen. Ein zentrales Kürzel ist IPCEI (Important Project of Common European Interest). Dazu zählen beispielsweise Halbleiterproduktionen ebenso wie Wasserstoffprojekte. Auch mit einer neu formulierten partnerschaftlichen Afrika-Strategie will die EU im globalen Wettbewerb Akzente setzen.
Frage nach neuer Weltordnung und der Rolle der EU dabei
Natürlich bleiben unter aller rhetorischen und tatsächlichen Einigkeit die unterschiedlichen Interessen zwischen den Mitgliedsstaaten, aber auch zwischen der EU und den USA bestehen. Das jüngste Beispiel entzündete sich am US-amerikanischen „Inflation Reduction Act", einem milliardenschweren Förderprogramm der USA, das einige in der EU geplante Großinvestitionen in Gefahr brachte.
Die Frage nach einer neuen Weltordnung und der Rolle der EU dabei steht nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine auf der Agenda. Der Krieg spitzt die Frage aber zu, wie sich eine neue globale Ordnung sortieren kann und wird.
Eine Grundlage, auf der lange Zeit politische und wirtschaftliche Strategien aufgebaut haben, ist jedenfalls durch den Angriffskrieg obsolet geworden. Es war die Annahme, dass eine zunehmend intensivere wirtschaftliche Verflechtung mit gegenseitigen Abhängigkeiten die Wahrscheinlichkeit eben eines solchen Krieges senken und unwahrscheinlicher machen würde, weil damit ein massiver eigener Schaden einhergehen würde. Dieser durchaus vernünftig begründbaren Annahme ist am 24. Februar 2022 erst einmal die Grundlage entzogen worden. Was daraus an Lehren zu ziehen ist, ist noch offen. Es wird eine der großen Herausforderungen, die nach Ende dieses Krieges zu bewältigen sind. Das aber ist derzeit nicht absehbar.