Nach zwei Jahren Lockdown feiern die Chinesen in Singapur fröhlich ihr Neujahr wieder ohne Beschränkungen. Die Tradition reicht bis ins
8. Jahrhundert v. Chr. zurück – sie sollte einen bösen Geist vertreiben.
Die Stadt Singapur begrüßt mich mit einem Mix aus modernen Hochhäusern und altkolonialen Bauten im britischen Stil. Man sieht keine Straßenverkäufer mit ihren Essensständen und keinen chaotischen Straßenverkehr mit Hunderten von Rollern, wie sonst üblich in Asien. Das Leben ist schnell und von Arbeit, Konsum und Smartphone-Nutzung geprägt. Gleichzeitig findet man überall Grün in der Stadt, ungewöhnliche Pflanzen an den Fassaden der Häuser. Und man erlebt ein tolerantes Miteinander.
Das chinesische Neujahr orientiert sich am Mondkalender und wird von der örtlichen Astrologie abgeleitet, jedes Jahr fällt es auf ein anderes Datum. Dieses Jahr fiel der Höhepunkt der Feier auf den 22. Januar. Am 23. und 24. Januar fanden die Hausbesuche von Familienmitgliedern, manchmal auch von Freunden, statt.
Die Tradition reicht zurück in die Zeit zwischen 800 bis 700 v. Chr., in die Han-Dynastie, und wurde an spätere Dynastien immer weiter überliefert. Der Legende nach wurde der böse Geist Nian von der Dorfbevölkerung vertrieben, indem überall die Farbe Rot angebracht und Böller verwendet wurden. Auch bei den diesjährigen Feiern sieht man überall die Farbe Rot: Sie soll Wohlstand und Glück bringen, die in der chinesischen Kultur einhergehen.
Die Versammlung der gesamten Familie ist obligatorisch. In Singapur lebende Familien haben es damit deutlich leichter: Die Arbeiter aus den Städten in China müssen zum Teil riesige Strecken bis in ihre Heimatdörfer zurücklegen und legen an bestimmten Tagen den gesamten Verkehr lahm. Bei den Treffen werden traditionelle Speisen zubereitet, am bekanntesten sind Dumplings und Frühlingsrollen. Zudem werden rote Umschläge mit Geldgeschenken an ältere Familienmitglieder und Kinder verteilt. Es gibt einige ungewöhnliche Tabus für die Tage der Festlichkeit: So dürfen zum Beispiel keine Scheren oder schweren Objekte benutzt werden, es sollen keine Medikamente eingenommen oder Arzttermine wahrgenommen werden, Kranke, die im Bett liegen, sollen keine Segenswünsche empfangen oder aussprechen.
Die einzige Feier, die ich in der Stadt finden kann, konzentriert sich auf eine Bühne in einem großen botanischen Gelände. Jeden Abend gibt es ein Konzertprogramm zur Präsentation chinesischer Kultur. Unter Nieselregen, Lichtern und blumigen Dekorationen spazieren Familien durch das Gelände und machen Bilder. Touristen treffe ich in der Monsunzeit sehr wenige. Die Konzerte wurden von privaten Stiftungen und Firmen gesponsert, die einst dem Staat gehörten, erklärt mir Security-Mitarbeiter Shang Li. Er scheint sich im Vergleich mit den zahlreichen Freiwilligen am besten mit den kulturellen Hintergründen auszukennen.
Kulturelle Vielfalt
Die Feier ist zwar chinesisch, steht aber im Zeichen der kulturellen Vielfalt in Singapur und ist dazu gedacht, alle Bürger einzuladen. Nichtsdestotrotz wird das heutige Konzert auf Mandarin gehalten. Unter den Zuschauern sehe ich hauptsächlich Chinesen ab 50, sie kommen aus China und Singapur.
Auf der Bühne werden traditionelle Lieder gesungen und Programme geboten, die zur Unterhaltung der älteren Bevölkerung dienen sollen. Shang Li erklärt mir, dass das Programm an den ersten zwei Tagen des Neujahrs vielfältiger war, auch mit Tanzeinlagen und Gruppen aus anderen Kulturen. Diese wurden dann auch mit Übersetzungen auf Englisch präsentiert. Jetzt aber seien die Familienbesuche vorbei und die ältere Generation sei wieder mehr unterwegs, sodass sie die Zielgruppe des Konzerts ist. „Die Musik ist gut, sie kommt schließlich von chinesischen Sängern", meint voller Stolz eine Dame, die neben mir sitzt. Sie will wissen, in welchem Jahr ich geboren bin, und googelt dann schnell mein Tierkreiszeichen. Diese Frage ist ziemlich üblich, da man von den Tierkreiszeichen auch die Charaktereigenschaften ableiten zu können glaubt. Es kommt ein Vertreter des Ministeriums und gratuliert zum Neujahr, um wen genau es sich handelt, kann mir aber niemand sagen. Er ist froh, dass das Land nach dem langen Lockdown nun wieder die Grenzen geöffnet hat und feiern kann.
Das neue Jahr ist eine passende Gelegenheit für Geschäfte, die Lagerbestände aufzulösen und spazierende Besucher hauptsächlich chinesischer Herkunft mit attraktiven Sales anzulocken. Das passt zu der Tradition des Wohlstands als Garant für Glück. Im Zentrum der Stadt gibt es Läden zum Erkunden von neuesten technischen Spielereien auf dem Markt, die internationalen Konzerne passen ihre Werbung auf die Neujahrsfeierlichkeiten an. Die neueste LED-Bodeninstallation wurde zum Beispiel für Kinder pünktlich zum chinesischen Neujahr fertiggestellt.
Wie überall sonst kann man diesen Besuch im Voraus online buchen und es gibt einen Rabatt für treue Kunden. Auf dem Gelände des botanischen Gartens werden riesige Laternenskulpturen präsentiert, die Tierkreiszeichen darstellen. Das chinesische Horoskop daneben prophezeit den Verlauf des Jahres für Menschen, die im Jahr des Tigers oder des Schweins geboren wurden. Auffällig häufig kommt das englische Wort „luck" (Glück) vor, verbunden mit verschiedenen Karriere-Hoffnungen.
Prophezeiungen im Horoskop
Der Höhepunkt des Abends ist die übergroße Figur des „God of Fortune", der einen Fisch in den Händen hält. Er hat seine Ursprünge in der japanischen Mythologie und steht als einer der sieben Glücksgötter für Wohlstand. Alle Besucher versammeln sich um die Figur und scheinen auf etwas zu warten. Auf einmal fällt aus dem Fisch von oben goldener Segen in Form von Goldstaub auf die Menschen. Alle strecken die Hände aus und versuchen, etwas vom Goldstaub zu fangen. Ob viele Chinesen sich des Ursprungs dieser Figur bewusst sind und wissen, dass er nur einer von sieben Göttern ist? Mich jedenfalls erinnert das Spektakel eher an einen Besuch des Weihnachtsmanns als an eine Jahrtausende alte Weisheit.
Ich frage mich, wie die unmittelbare Verbindung zwischen Wohlstand und Glück zustande gekommen ist und zur Tradition wurde. Konfuzius hat zu seiner Zeit Moral, Integrität, Ehrlichkeit, Güte und Gerechtigkeit in Beziehungen und Politik gelehrt. Viele Werte in beiden Grundpfeilern der Kultur des Taoismus und Konfuzianismus wie Respekt vor den Älteren, Handeln aus Pflichtbewusstsein, Rücksicht und Liebe zu den Mitmenschen sind heute noch im täglichen Verhalten verankert. Die Prinzipien der Selbstkultivierung und Enthaltsamkeit von Extravaganz, Vermeidung von Verschwendung und das Streben nach einem einfachen Lebensstil stehen aber nicht unbedingt in Einklang mit Wohlstandsverehrung und Konsumglück.
Ein Erklärungsversuch könnte in der Geschichte zu finden sein. Prof. Dr. David Palmer von der Hong Kong University sieht weit zurückreichende Wurzeln, bis in die Zeit, als China zum zentralen Handelsumschlagsplatz wurde (während Europa noch weit von solch einer Entwicklung entfernt war). Damals, in der Zeit der Song-Dynastie des 11. Jahrhunderts, wurde auch das erste Papiergeld erfunden. Viel später hat die Kulturrevolution von Mao Zedong das Land in den finanziellen Ruin getrieben und alles brutal unterdrückt, was nicht das kommunistische Gedankengut unterstützte. Der ehemalige kommunistische Beamte Deng Xiaoping stieg zum Nachfolger auf und führte die Wirtschaft wieder nach oben.
Palmer sagt, dass die Chinesen nach vielen Umwegen und Rückschlägen froh gewesen seien, der Armut entkommen zu sein. Geld sei mittlerweile ein gängiges Statussymbol, etwa bei Heiraten oder anderen sozialen Verbindungen. Man frage Leute sogar in aller Öffentlichkeit danach, wie viel sie verdienen.