Leidensfähig und kämpferisch: Nationalringer Viktor Lyzen vom KSV Köllerbach will nach Rückschlägen zurück in die Erfolgsspur. Sein Erfolgsrezept: erst mal kein konkretes Ziel setzen.
Viktor Lyzen wird nicht aufgeben. Der 26 Jahre alte Freistil-Ringer von Bundesligist KSV Köllerbach wurde Deutscher Meister 2022 in seiner Gewichtsklasse (bis 61 Kilo) und verpasste bei der Europameisterschaft 2022 im ungarischen Budapest als Elfter nur knapp die Top Ten.
Eine Knieverletzung und eine langwierige Viruserkrankung warfen ihn danach allerdings zurück.
Wie es sich anfühlt, bei einer EM auf dem Siegertreppchen zu stehen, durfte er 2015 erleben: Damals holte er bei der Junioren-EM in Istanbul die Bronzemedaille. Wenige Jahre zuvor war er ukrainischer Jugendmeister geworden. Viktor Lyzen wurde 1996 in der Ukraine geboren. Sein Vater Viktor senior war Ringer in der ukrainischen Nationalmannschaft und wechselte Ende der 1990er-Jahre zum saarländischen Traditionsclub KSV Köllerbach, später zog es ihn weiter zum AC 09 Laubenheim nach Mainz. Sein damals zweijähriger Sohn Viktor junior kam kurz darauf mit seiner Mutter nach Deutschland, wo vor acht Jahren Schwester Jana geboren wurde. Im Alter von gerade einmal vier Jahren begab sich Viktor junior erstmals auf die Ringermatte. „Zuerst habe ich meinem Vater beim Training zugeschaut, dann habe ich selbst angefangen“, erinnert er sich an seine ersten Vorwärts- und Rückwärtsrollen in der Laubenheimer Jugendabteilung. Eine Zeit lang spielte Lyzen auch Tennis im Verein und bewies in beiden Sportarten Talent. Doch als er sich als Teenie für eine entscheiden musste, war klar: Das Ringen hatte die Nase vorn.
Ringer-Gene in der Familie
Vom AC 09 Laubenheim ging seine Laufbahn, die fast genauso viele Vereine wie Jahre zählt, erst zum SV Alemannia Nackenheim, dann zum Laubenheimer Lokalrivalen ASV Mainz 88, von wo aus er mit dem Schulwechsel ans Sportinternat Freiburg zur RG Waldkirch-Kollnau wechselte. Von dort ging es weiter zu Zweitligist TV Triberg. Seit 2017 geht Lyzen bei Einzelmeisterschaften für Bundesligist KSV Köllerbach an den Start. Zudem in der vergangenen Saison für die „Lions“ des SV Alemannia Nackenheim in der Bundesliga. „Ich habe schon viele Vereine kennengelernt“, blickt Lyzen zurück. Ob sich an der aktuellen Zugehörigkeit noch etwas ändert, entscheidet sich in den kommenden Wochen. „Noch ist nichts spruchreif“, betont er.
Als Teil des Perspektivkaders für die Teilnahme an den Olympischen Spielen wird Viktor Lyzen junior von der Sportstiftung Saar gefördert. Die Sommerspiele 2024 in Paris kommen für ihn wohl aber noch zu früh, zumal er erst vor Kurzem in die nächsthöhere Gewichtsklasse bis 65 Kilo gewechselt ist. Außerdem waren da noch die Meniskus-OP und die langwierige virale Erkrankung: „Mein oberstes Ziel ist daher, erst einmal wieder dorthin zu kommen, wo ich schon einmal gewesen bin“, stellt er klar und weiß: „Für Paris wird das knapp, da stehen die Teilnehmer auch schon weitestgehend fest. Aber 2028 finden ja auch Olympische Spiele statt …“ Mit 26 Jahren gehört er zwar nicht mehr zu den Jüngsten, befindet sich aber im besten Sportleralter. Und Aufgeben ist nicht sein Ding. Die Reha verlief jedenfalls „sehr gut: Dafür möchte ich mich noch bei Oli Muelbredt und seinem Team bedanken.“
Nicht nur an der Hermann-Neuberger-Sportschule, wo er seine Reha absolvierte und am Olympiastützpunkt trainiert, fühlt er sich wohl: „Ich fühle mich wie ein ukrainischer Deutscher. Meine Wurzeln sind ukrainisch, aber in Deutschland bin ich aufgewachsen“, sagt Lyzen, der im Alter von 16 Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat: „Darüber hinaus identifiziere ich mich als Saarländer.“ Dabei lebt er noch gar nicht so lange hier. Erst nach seinem Abitur am Sportinternat in Freiburg kam Lyzen ins Saarland und absolvierte beim Landessportverband für das Saarland ein Freiwilliges Soziales Jahr: „Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, aber anfangs war die saarländische Sprache für mich eine sehr große Baustelle“, gibt er zu: „Aber es ist ganz schön, wenn man ‚im Ausland‘ – also in anderen Bundesländern – andere Saarländer trifft und die Sprache wiedererkennt.“ Nach seinem FSJ wurde er in die Sportfördergruppe der Bundeswehr aufgenommen, der er noch immer angehört.
Im sogenannten „Ausland“ hält sich Viktor Lyzen immer mal wieder auf. Zum einen im Rahmen der Wettkämpfe für den KSV Köllerbach und der SVA Nackenheim, zum anderen aber auch für sein Studium. Seit Beginn des laufenden Wintersemesters 2022/2023 studiert er in Heidelberg Physiotherapie. „Nach fünf Jahren Pause wieder in der Schule zu sitzen ist schon gewöhnungsbedürftig“, gibt er zu: „Aber es ist auch ein guter Ausgleich zum sportlichen Alltag.“ Als passionierter Schachspieler mag er es ohnehin, sein Hirnschmalz zu aktivieren. Darüber hinaus ergänzten sich die Inhalte seines Studiums sehr gut mit dem, was er als Sportler wissen muss. „Und ich kann mich weiter auf den sportlichen Erfolg konzentrieren“, merkt er an. Was er damit noch erreichen möchte, kann er aber gerade nicht in Worte fassen: „Ich habe mir nach den jüngsten Erfahrungen eigentlich abgewöhnt, mir zu konkrete Ziele zu setzen. Ich bin insgesamt etwas lockerer geworden, was das angeht.“
„Ich bin ingesamt lockerer geworden“
Die Lockerheit soll ihn zunächst wieder dorthin zurückbringen, wo er einmal war: „Für mich ist es jetzt erst einmal wichtig, mich in der Bundesliga und auf den Deutschen Meisterschaften von meiner besten Seite zu zeigen. Erst danach kann ich mir wieder Gedanken darüber machen, was ich auf internationaler Bühne erreichen möchte.“
Fernab des Sports möchte Viktor Lyzen vor allem eines: endlich mal wieder in sein Geburtsland, die Ukraine, reisen. Der Großteil seiner Familie lebt dort im Westen und ist von dem nun schon über ein Jahr andauernden Angriffskrieg Russlands bisher weitestgehend verschont geblieben. „Im Großen und Ganzen geht es ihnen im Moment ganz gut. Von Freunden habe ich aber auch erfahren, wie schlimm es in den anderen Gebieten ist, und auch Dinge gehört und gesehen, über die in den Medien nicht berichtet wird“, sagt Lyzen. „Egal wo auf der Welt: Der Krieg ist überall gleich. Nämlich erbarmungslos.“
Diese Erkenntnis und die Schilderungen seiner Bekannten haben ihn anfangs erschüttert und „sehr mitgenommen. Aber so schlimm es sich auch anhört: Mittlerweile ist es zum Alltag geworden. Das ist einfach nur traurig“, sagt er und erklärt: „Die Heimat fehlt mir, ich habe eine große Sehnsucht nach meiner Familie und Freunden. Früher bin ich mehrmals im Jahr in die Ukraine geflogen. Heute darf ich als Soldat der Bundeswehr nicht in Kriegsgebiete einreisen.“
Die Hoffnung, dass der Krieg und damit das Leid in seiner Heimat bald ein Ende finden, schwindet beim ukrainischen Ringer. Und gerade deshalb soll das, was er von sich selbst fordert, auch für sein Geburtsland gelten: niemals aufgeben.