Ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskrieges sind die Auswirkungen auch für ukrainische Sportler groß. Die IOC-Position, russische und belarussische Athleten auf die Sportbühne zurückkehren zu lassen, stößt auf heftige Kritik.

Als Boxer waren Witali und Wladimir Klitschko besonders. Sie entsprachen so gar nicht dem gängigen Klischee eines dumpfen Faustkämpfers, der außerhalb des Ringes entweder Probleme sucht oder ihnen zumindest nicht aus dem Weg geht. Die Klitschkos präsentierten sich als charmante und clevere Zeitgenossen, beide studierten Sportwissenschaften und noch mehr das Leben, das ihnen mit dem Umzug aus der Ukraine nach Hamburg Ende der 1990er-Jahre völlig neue Perspektiven bot. Es war vor allem diese weltmännische Art, die beim deutschen Box-Publikum Eindruck hinterließ. Die beiden groß gewachsenen, gut aussehenden und gebildeten Ukrainer lernten schnell Deutsch und begeisterten mit ihren Schwergewichtskämpfen. Sie führten hierzulande den Box-Boom fort, der mit dem Rücktritt von Henry Maske fast zum Erliegen gekommen war. Viele Millionen Fans fieberten mit, wenn „Dr. Stahlhammer“ (Wladimir) oder „Dr. Eisenfaust“ (Witali) im Ring die Fäuste fliegen ließen. Und auch in dem Kampf, den die beiden Ex-Weltmeister aktuell austragen, steht der Großteil der deutschen Bevölkerung auf ihrer Seite. Nur leider entscheidet sich dieser Kampf nicht im Ring.
„Unsere Soldaten sind Helden“

„Natürlich würde ich Putin gerne k. o. schlagen, aber das ist doch nur Fantasie“, sagte Witali Klitschko im Interview der „Bild am Sonntag“: „Putin erlebt seinen persönlichen K. o. derzeit an der Front, wo unsere Soldaten heldenhaft kämpfen und einer der vermeintlich stärksten Armeen der Welt immer wieder schwere Niederlagen verpassen. Die ukrainischen Soldaten sind Helden!“ Wladimir Putin führt mit der russischen Armee seit einem Jahr einen Angriffskrieg in der Ukraine, in dem die Klitschko-Brüder zwar nicht an vorderster Front stehen. Aber sie verteidigen ihr Land auf andere Weise.
Als Bürgermeister der Hauptstadt Kyjiw kommen dem 51-jährigen Witali ohnehin hohe politische Aufgaben zu, und auch sein fünf Jahre jüngerer Bruder Wladimir übernimmt dank seiner weitreichenden Verbindungen und seines beeindruckenden Auftretens im Ausland diffizile Termine. So traf er sich zum Beispiel kürzlich mit dem deutschen Verteidigungsminister Boris Pistorius, um sich in Niedersachsen über die dortige Ausbildung ukrainischer Soldaten auf deutschen Kampf- und Schützenpanzern zu informieren. Und natürlich auch, um dort gemeinsam vor die Presse zu treten und weiter für die Unterstützung der Ukraine zu werben.
Die Stimme für die Ukraine erheben aber nicht nur die Klitschkos, sondern auch andere Sportler des überfallenen Landes. Die Hochspringerin Jaroslawa Mahutschich war mit eine der ersten, als sie kurz nach Kriegsbeginn unter widrigsten Bedingungen nach Belgrad gereist war und bei der Hallen-WM Gold geholt hatte. Mahutschich, die sich zuvor mehrere Tage im Keller vor den Bomben verborgen hatte, präsentierte stolz die gelb-blaue Flagge. Die Kollegen von Fußballprofi Oleksandr Sintschenko (jetzt Arsenal) trugen in der vergangenen Saison bei Manchester City vor dem Anpfiff einer Premier-League-Partie beim Warmmachen T-Shirts mit der Ukraine-Flagge und der Aufschrift „Kein Krieg“.
Viele Sportler nutzen die internationale Bühne

Schwimmstar Mychajlo Romantschuk nutzt nahezu jedes Interview, um auf die Situation in seinem Land und die Schuld Russlands hinzuweisen. Er und seine Ehefrau, die Weit- und Dreispringerin Maryna Bech-Romantschuk, leben und trainieren inzwischen in Magdeburg. Die Einladung kam von Schwimm-Olympiasieger Florian Wellbrock, weil Romantschuks „letzte Trainingshalle mit einem 50-Meter-Becken kaputt gebombt wurde“, wie Wellbrock verriet. Im Wasser schenken sich die Rivalen nichts, abseits davon ist das Verständnis der deutschen Schwimm-Kollegen für die ukrainische Sichtweise in dem Krieg enorm gewachsen. Die ukrainische Führung hat den enormen Einfluss der Athleten früh erkannt und auch für sich genutzt, um die Moral in der Heimat aufrechtzuerhalten. „All unsere Athleten treten in den ukrainischen Farben an, sie stehen auf den Podesten mit unserer Flagge in den Händen. Die ganze Welt soll sehen, dass die Ukraine war, ist und auch weiterhin sein wird“, sagte Sportminister Wadym Hutzajt der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: „Ich bin stolz auf jeden Einzelnen. Weil sie trainieren und antreten, während Raketen auf uns niedergehen, unsere Städte bombardiert werden, ihre Mütter und Väter sterben, sie ihre Häuser oder Wohnungen verlieren, ihr Zuhause verlieren. Sie zeigen allen, dass wir eine starke Nation sind.“ Der Sport sei ein „treibender Faktor“ zur Stabilisierung nach innen und Mobilisierung nach außen.
Weltmeister Oleksandr Usyk, der in die Fußstapfen der Klitschkos getreten ist und drei der vier wichtigsten WM-Gürtel im Schwergewichtsboxen hält, griff zwischenzeitlich selbst zum Gewehr und schloss sich in Kyjiw einer Freiwilligen-Einheit an. Auch der frühere Tennisprofi Sergej Stachowski meldete sich nur zwei Monate nach seinem Rücktritt vom aktiven Sport im Januar 2022 als Freiwilliger der Territorialverteidigung Kyjiws an. „Ich weiß, dass ich sterben kann“, sagte er, „und bin bereit, alles zu tun, was nötig ist“. Nach ukrainischen Angaben kämpfen 3.000 aktive Sportler direkt an der Front, mehr als 230 sind bei den Gefechten gestorben. Bestätigt sind die Tode unter anderem von Zehnkämpfer Wolodymyr Androschtschuk, der Fußballer Witalii Sapylo und Dmytro Martynenko sowie des Biathleten Jewhen Malyschew.
Angesichts dessen empfinden es die meisten Ukrainer als Schlag ins Gesicht, dass das Internationale Olympische Komitee (IOC) die Tür für Athleten aus Russland und Belarus für internationale Wettkämpfe wieder öffnen will. „Während Russland tötet und terrorisiert, haben Vertreter dieses Terrorstaates keinen Platz bei Sport- und olympischen Wettkämpfen“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei einer internationalen Videokonferenz von Sportministern und anderen ranghohen Vertretern Mitte Februar. Auch eine neutrale Flagge, unter der aktuell bereits die Tennisprofis bei der ATP- und WTA-Tour starten dürfen, sei „mit Blut getränkt“ und daher nicht tragbar.

Bei jenem Meeting erhöhten Sportpolitiker aus 35 Nationen den Druck auf das IOC, in dem sie für die kommenden Wochen eine Erklärung mit klarer Botschaft vereinbarten: Kein Start für Sportler aus Russland oder Belarus – auch nicht bei Olympia 2024 in Paris. Deutschlands Sportministerin Nancy Faeser benannte die deutsche Position klar: „Solange Putin seinen barbarischen Krieg fortsetzt, dürfen Russland und Belarus nicht bei den Olympischen Spielen vertreten sein.“ Doch wenn das IOC es so will und durchsetzt, kann die Politik wenig machen. Das weiß auch Faeser. Von einem Olympia-Boykott hält sie nichts, weil er die unbeteiligten Athleten treffen würde.
Die Ukraine könnte jedoch die Sommerspiele in anderthalb Jahren boykottieren – was einen enormen Druck auf das IOC nach sich ziehen würde, sollte der Krieg bis dahin nicht beendet sein. „Das ist eine von mehreren Optionen“, bestätigte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba: „Wenn russische und belarussische Sportler anstelle von ukrainischen Athleten nach Paris kommen würden, wäre dies gegen alle moralischen, sportlichen und politischen Standards.“
Krüger hält Bachs Aussagen für zynisch
Die IOC-Verantwortlichen betonen derweil, dass eine Entscheidung noch gar nicht getroffen sei und warnen vor einem möglichen Boykott der Ukraine. Allein schon die Androhung richte sich gegen die Grundlagen der olympischen Bewegung und der Prinzipien, für die sie stehe, kritisierte das IOC in einem Brief an Sportminister Hutzajt. Außerdem wies der Ringe-Orden darauf hin, dass keine russischen oder belarussischen Flaggen in den Wettkampfstätten wehen und keine der beiden Nationalhymnen bei Siegerehrungen ertönen würden. Außerdem bliebe das Verbot für Regierungsmitglieder und staatliche Offizielle aus beiden Ländern bestehen. Doch reicht das, um Russen und Belarussen wieder auf der Sportbühne willkommen zu heißen?

Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) tut sich schwer mit einer klaren Haltung; mit dem IOC wolle man in dieser Frage weiter „eng beieinander“ bleiben. Die Athleten Deutschland stellen sich dagegen derzeit klar gegen eine Wiedereingliederung. „Dieser Schritt würde signalisieren: Eine Nation kann die Werte und Regeln des Sports und der Weltgemeinschaft Mal um Mal verletzen – ohne ernsthafte Konsequenzen fürchten zu müssen“, heißt es in einer Stellungnahme des Vereins. „Nach dem Staatsdopingskandal erzielte der Start russischer Athleten unter neutraler Flagge schon einmal nicht die gewünschte Wirkung.“ Außerdem sei der russische Sport viel zu eng mit dem Staat verwoben, Athleten „werden von Putins Propaganda für politische Zwecke instrumentalisiert, freiwillig oder unfreiwillig“.
IOC-Präsident Thomas Bach hob dagegen hervor, dass eine Ausgrenzung allein „wegen eines Passes oder des Geburtsorts“ gegen das Diskriminierungsverbot verstoße. Léa Krüger, aktive Säbelfechterin und Präsidiumsmitglied bei Athleten Deutschland, hält dieses Argument für zynisch: Die Ukrainer könnten derzeit kaum zu Hause trainieren, „weil Russland, der Staat, Bomben auf ihre Trainingsstätten schmeißt. Es sind mehrere Athleten und Athletinnen in dem Krieg bereits gestorben auf ukrainischer Seite. Die werden nirgendwo mehr antreten können“, sagte Krüger: „Es findet hier doch eigentlich schon eine Diskriminierung Russlands gegenüber der Ukraine statt.“
Wie gern würde Witali Klitschko all das im Ring lösen. Zu Kriegsbeginn habe er nur wenig Lust auf Sport verspürt, „aber mein Bruder hat mich gezwungen, meinen Körper zu belasten, Liegestütze zu machen“, berichtete er: „Es war wichtig, fit zu bleiben.“ Auch wenn die Klitschko-Brüder diesen Kampf nicht mit ihren Fäusten gewinnen werden.