Schon über 50.000 Opfer hat das schwere Erdbeben in der Türkei und Syrien gefordert. Eine Mitschuld an den hohen Opferzahlen tragen auch Korruption, eine schlecht aufgestellte Katastrophenhilfe und politische Konflikte.
Es war das stärkste Erdbeben seit Beginn der Aufzeichnungen und vermutlich seit vielen hundert Jahren, das sich am 6. Februar 2023 in der Region im Südosten der Türkei und im Nordwesten von Syrien ereignete. Die Region an der Bruchkante von zwei tektonischen Platten ist etwa so groß wie zwei Drittel der Fläche Deutschlands und überwiegend kurdisch-alevitisches Siedlungsgebiet. Zahlreiche Nachbeben erschüttern seitdem die Region, so etwa in Hatay am 20. Februar mit einer Stärke von 6,4 und 5,8 auf der Richterskala. Erneut stürzten Häuser ein und Menschen wurden verschüttet. Über 50.000 Tote wurden bislang von offiziellen Stellen gemeldet, aber noch liegen Tausende unter den Trümmern.
Hilfslieferungen beschlagnahmt
In der Türkei mehrt sich die Kritik an Präsident Erdoğan und seiner Regierung, dem Bündnis zwischen Erdoğans islamistischer AK-Partei und der als rechtsextrem geltenden „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP). In den ersten zwei Tagen nach dem Erdbeben waren staatliche Institutionen wie die Katastrophenschutzbehörde AFAD oder das Militär vor Ort nicht präsent. Lokale zivilgesellschaftliche Organisationen versuchten mit völlig unzureichenden Mitteln, Verschüttete zu bergen. Der im kurdischen Südosten sonst so omnipräsente türkische Staat – mit all seinen Checkpoints, Helikoptern und Militärfahrzeugen – war noch 35 Stunden nach Beginn der Erdbeben unsichtbar. Streitkräfte wurden viel zu spät mobilisiert, der Katastrophenschutz brauchte zu lange. Eine dezentrale Infrastruktur für Katastrophenhilfe ist in der Region kaum vorhanden. Auch fehlte eine Koordination zwischen Katastrophenschutz, Feuerwehr und Initiativen der Zivilgesellschaft in den betroffenen Gebieten, um mit ortskundigen Menschen schnell Hilfe organisieren zu können.
Stattdessen wird die Hilfe von der Zentralregierung ohne Einbeziehung der lokalen Strukturen organisiert, was zu weiteren Verzögerungen führt und zwangsläufig die Opferzahlen erhöht. Die Überlebenschancen nach zwei, drei Tagen ohne Wasser und Temperaturen deutlich unter dem Gefrierpunkt sind gering. Besonders in den vom Erdbeben betroffenen kurdischen Gebieten wurden demokratische Organisationen der Zivilgesellschaft in den letzten Jahren von der türkischen Regierung handlungsunfähig gemacht. Dabei sind Fachleute sich einig, dass gerade die dezentrale Organisation von Hilfe durch zivilgesellschaftliche Institutionen und deren verfügbare Kapazitäten wie Bagger, Lager für Lebensmittel oder Freiflächen als Sammelplätze in Erdbebengebieten überlebenswichtig sind.
Eigentlich müssen öffentliche Gebäude wie Krankenhäuser und Schulen absolut erdbebensicher sein. Doch darum hat sich die türkische Regierung in den letzten 20 Jahren nicht gekümmert. Das im Katastrophengebiet viel zu wenig präsente Militär tauchte stattdessen in der Stadt Pazarcik, mitten im Epizentrum auf, um die Spenden und Hilfsgüter der oppositionellen Demokratischen Partei der Völker (HDP) zu beschlagnahmen und sie – wie auch viele andere Hilfslieferungen aus dem Ausland an den Grenzübergängen oder Flughäfen – mit Aufklebern der Regierungspartei AKP zu versehen.
Obwohl diese Region, wie auch Istanbul im Westen der Türkei, zu den am meisten von Erdbeben bedrohten Gebieten gehört, ist wenig zur Prävention getan worden. Erdbeben an den Bruchkanten tektonischer Platten lassen sich nicht verhindern, wohl aber das verheerende Ausmaß mit so vielen Toten, Verletzten und Obdachlosen wie jetzt. Zwar gibt es Vorgaben in den Bauordnungen, dass Neubauten erdbebensicher konstruiert werden müssen. Doch durch das mafiöse AKP-Netzwerk im Bausektor konnten Unternehmer Hochhäuser ohne behördliche Prüfung bauen. Kurz vor den Wahlen 2018 hat Erdoğan einen sogenannten Baufrieden für hunderttausende Gebäude erlassen, die gegen die Bauordnung verstoßen. Viele Menschen in der Türkei fragen sich jetzt auch, wo denn die 37 Milliarden der seit 20 Jahren erhobenen Erdbebensteuer geblieben sind.
Der Geowissenschaftler Prof. Dr. Naci Görür warnte mit anderen Experten schon seit Jahren vor einem schweren Erdbeben in dieser Region. Zusammen mit anderen Wissenschaftlern legte er ein Projekt zur Verhütung von Erdbebenopfern für die „ostanatolische Verwerfungslinie“ vor. Das staatliche Planungsamt des Entwicklungsministeriums (DPT) sowie die türkische Anstalt für Wissenschaftliche und Technologische Forschung (Tübitak) lehnten ab. „Die Politik und der Staat ignorierten die Warnhinweise und warteten tatenlos die Katastrophe ab, die sich in der mehrheitlich von Aleviten und Kurden bewohnten Region abspielen würde“, kommentierte die „Zeit“.
Erdbeben politisch instrumentalisiert
Auch Nordwestsyrien gehört zu der am stärksten betroffenen Erdbebenregion. Die Städte Jindires und Shaykh al-Hadid in der seit 2018 von der türkischen Armee besetzten Region Afrin sind zu 80 Prozent zerstört. Bei mehreren Nachbeben stürzten in Afrin weitere, zuvor schwer beschädigte Gebäude ein. Die Zivilverwaltung von Afrin steht seit 2018 unter der Kontrolle des Gouverneurs von Hatay in der Türkei.
Der Schutz und die Versorgung der Zivilbevölkerung fallen nach internationalem Recht damit automatisch in die Zuständigkeit der Türkei. Hilfe von dort ist jedoch in weiter Ferne. Die Menschen vor Ort versuchten bei Schnee und Minustemperaturen verzweifelt, mit bloßen Händen Angehörige aus den Trümmern zu bergen. Ein weiteres Problem ist, dass die Dschihadisten-Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS), ein Ableger von Al Qaida, in weiten Teilen Afrins die Kontrolle übernommen hat und die Türkei diese gewähren lässt. Der Kurdische Rote Halbmond „Heyva Sor“ versucht mit begrenzten Möglichkeiten in den betroffenen Selbstverwaltungsgebieten zu helfen. Einen Tag nach dem ersten Erdbeben bombardierte die Türkei jedoch die schwer betroffene Stadt Tel Rifaat. Sie dient seit 2018, nach der türkischen Besetzung, als Zufluchtsort für tausende Vertriebene. Dort leben 1.662 vertriebene Familien aus Afrin und 35 vertriebene Familien aus Idlib. Aber die multikulturelle Selbstverwaltung ist der Türkei seit Jahren ein Dorn im Auge. Fast täglich erlebt die Region Angriffe durch türkische Artillerie oder Drohnen.
Auch vom syrischen Regime wird das Erdbeben politisch instrumentalisiert. Die Hilfsorganisation Kurdischer Roter Halbmond aus dem angrenzenden Nord- und Nordostsyrien hatte einen Hilfskonvoi für die Region Aleppo an die Grenze zum Gebiet des syrischen Regimes geschickt und angeboten, das Gebiet der Selbstverwaltung als Brücke für humanitäre Hilfe in alle syrischen Katastrophengebiete zu nutzen. Die syrische Zentralregierung lehnte das Angebot ab und forderte stattdessen, dass ein Großteil der Hilfsgüter einschließlich mehrerer Ambulanzen an das Regime abzugeben sei. Nach einer Woche zäher Verhandlungen konnte der Hilfskonvoi schließlich passieren. In Idlib, südlich von Afrin, ebenfalls von der Dschihadistenmiliz HTS kontrolliert, ist die Lage ähnlich dramatisch wie in Afrin. Auch hier kommt keine Hilfe an, weder vom syrischen Regime, noch von der Türkei.
In Aleppo und anderen betroffenen Gebieten unter Kontrolle des syrischen Regimes gibt es rudimentäre Unterstützung durch russisches Militär und Hilfslieferungen aus dem Iran. Beide unterstützen das Assad-Regime. Im vom Erdbeben stark betroffenen selbstverwalteten Viertel Sheik Massoud in Aleppo jedoch kommt, wie im gesamten Gebiet der Selbstverwaltung, keine Hilfe des Regimes an.