Die mehr als 100 Jahre alte Kneipe „E. & M. Leydicke“ in Schöneberg ist eine Institution. Dort kann man hausgebrauten Obstweinen und Likören frönen und sich dabei in historischem Ambiente ganz nostalgisch in alte Berliner Zeiten zurückträumen.
Die letzte Jahrhundertwende liegt mehr als 20 Jahre zurück, doch an der Mansteinstraße muss man nur durch eine einzige Tür gehen und schon fühlt man sich weit zurückversetzt ins vergangene Jahrtausend, bis ins 19. Jahrhundert: Willkommen im „E. & M. Leydicke“! Noch immer umgibt eine historische Aura die Berliner Institution im Kiez am S-Bahnhof Yorckstraße.
Berliner Schnauze liegt ihm im Blut
Eine große, antike Kasse mit Kurbel thront auf dem mächtigen Tresen. Das Mobiliar ist aus dunkler Eiche und speckige, ockergelbe Farbe blättert von den Wänden. Überall findet man Relikte aus längst vergangenen Tagen. Da entdeckt man alte Schallplatten an den Wänden. Oder einen Zigarettenautomaten des längst verstorbenen jüdischen Tabakunternehmers Josef Garbáty. Damals kostete eine Schachtel noch 20 Pfennig, erfährt man durch den Aufdruck auf dem museumsreifen Automaten. Mit den Pfennigbeiträgen auf alten Getränkekarten geht es weiter: Demnach kostet ein Aquavit 30, ein Apricot Brandy 35 und ein Bärenpils 35 Pfennig. Da kommt man in inflationsgeschüttelten Zeiten fast schon auf nostalgische Gedanken.
Die kommen auch auf, wenn man die „Kaiserecke“ bestaunt, über der das Porträt eines Herrn mit gezwirbeltem Schnurrbart und einer husarenartigen Pelzmütze hängt: „August von Mackensen, ein Ururgroßvater von mir“, stellt Wirt Raimon Marquardt den Porträtierten vor. Darunter dann zwei Abbildungen und eine Büste von den preußischen Kaisern: „Hier ist Wilhelm I., da ist Wilhelm III. und dort ist Wilhelm II., der größte von diesen Hampelmännern im Ersten Weltkrieg“, erklärt der gebürtige Berliner weiter.
Wer den Kneipier so reden hört, merkt schnell, dass er kein Blatt vor den Mund nimmt und sich diesen natürlich auch niemals verbieten lassen würde. Die Direktheit der Berliner Schnauze liegt ihm im Blut. Marquardts Großmutter, die Wirtin Lucie Leydicke, galt als Berliner Original. „Sie raunzte die Gäste an, wenn die zu wenig tranken, schlichtete Streit, holte Weltverbesserer auf den Boden zurück und schenkte nach“, heißt es auf der Internetseite der Traditionsdestille. Die „Zeit“ druckte kurz nach ihrem Tod im Sommer 1980 sogar einen Nachruf.
Bernd Feuerhelm, der selbst einst Berliner Gastwirt war, erinnert sich noch gut an sie: „Die alte Lucie Leydicke hegte für mich so ein mütterliches Gefühl, stellte mir einen Schnaps hin, wenn ich ging“, erinnert er sich in einem Interview mit dem Stadtmagazin „Tip“. Lokalpolitiker vom Bezirk Tempelhof-Schöneberg wollten vor mehr als einem Jahr sogar einen Platz nach der legendären Wirtin benennen. Letztlich aber lehnte das zuständige Bezirksamt die Namensänderung ab.
Während man an diesem geschichtsträchtigen Ort aus dem Gucken und Staunen gar nicht mehr herauskommt, schenkt einem Lucie Leydickes Enkelsohn natürlich erst einmal ein. Wir kosten von dem fabelhaft fruchtigen Johannisbeer-Likör, den der Gastronom mit ein, zwei Mitarbeitern immer noch selbst herstellt. Köstlich, köstlich! Allerdings ist Vorsicht angesagt beim Probieren des süßen Kleinen. Er geht runter wie Saft, hat es mit seinen Prozenten aber gehörig in sich. Und ehe man sich’s versieht, ist das Glas schon leer – und der Wirt gießt nach.
Erst erfreut spritzig-frischer Zitronengeschmack den Gaumen, dann wärmendes Ingwer-Aroma. Klar ist, das man vorher ein wenig gegessen haben sollte, um nicht am Ende des Abends aus der Trinkstätte mehr hinauszutanzen als zu gehen. Denn Speisen sucht man vergeblich in der urigen Alt-Berliner Kneipe. Ebenso wie warme Getränke. Wer zwischendurch auf Tee, Kaffee oder Kuchen umsteigen will, muss mit dem kleinen „Café Manstein“ vorliebnehmen, das direkt nebenan liegt und von Raimon Marquard an die Betreiberin vermietet wird.
Gegründet 1877 als Likörfabrik
Doch bevor wir wieder am nächsten morgendlichen Kaffee schlürfen, wollen wir wissen, was das Haus „Leydicke“ noch an Selbstkreiertem und Selbstgebranntem zu bieten hat. Und erfahren, dass die Palette an angebotenen Likören noch allerlei andere Aromen hergibt. Dazu zählen aktuell Sorten wie Pfefferminz, Mokka, Kakao-Nuss, Eierlikör, Zimt, Pomeranze und Persiko. Letzterer sei eine klassische Berliner Spirituosenkreation aus Pfirsichkern, Bittermandel und Sauerkirsche, erläutert der Schöneberger Wirt. Wegen der bei Steinobstverarbeitung unbeabsichtigt entstehenden Blausäure war der Likör ab 1915 eine Zeit lang verboten. In den 1970er-Jahren arrivierte der Persiko schließlich zu einem Kultgetränk unter Jugendlichen.
Auch etliche hauseigene Obstweine sind in der Schöneberger Destillierstube im Angebot, etwa in den Sorten Brombeer, Erdbeer, Heidelbeer, Himbeer, Johannisbeer, Kirsch, Stachelbeer und Schlehe. Die süße Versuchung im historischen Ambiente ist weit über die Grenzen Berlins nach außen gedrungen: „Selbst heute erwecken die Leute, die Atmosphäre und die Drinks, hausgemachte Beerenweine und Schnäpse den Eindruck, rückwärts durch die Zeit gereist zu sein“, schrieb einst die amerikanische „New York Times“ in den späten 1980er-Jahren über das „Leydicke“. Die „Washington Post“ beschrieb 1991 die Gäste noch als „Mischung aus Yuppies und schwarzgekleideter alternativer Szene, die „erschreckend süßes Selbstgebrautes“ trinken. Selbstverständlich gibt es nicht nur Süßes in der mehr als 100 Jahre alten Kneipe. So kommen auch Liebhaber von frisch gezapftem Bier an der Mansteinstraße nicht zu kurz.
Gegründet wurde das „Leydicke“ 1877 von den Brüdern Max und Emil Leydicke als Likörfabrik mit Probierstube an der Prinzenstraße im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Dort wurden damals schon Obstweine, Liköre und Hochprozentiges nach eigenen Rezepten hergestellt und verkauft. 1889 bauten die Geschwister ein Gründerzeithaus an der Mansteinstraße samt einer Destillerie im Keller. Während in den 1920er-Jahren noch das Publikum aus klassischem Proletariat und Kleinbürgertum im „Leydicke“ verweilte, änderte sich die Situation der Destillierstube mit der 1968er-Studentenbewegung. „Wir waren das Sprungbrett auf dem Weg nach Kreuzberg, das gerade zum Szenebezirk wurde“, erzählt Raimon Marquardt, der seine Tresenkarriere als damals 22-Jähriger Mitte der 1980er-Jahre begann und so in die Fußstapfen von Großmutter und Mutter trat.
Regelmäßig Partys und Livemusik
Die bisher wohl deprimierendste Phase des urigen Lokals haben weder die Brüder Max und Emil noch Lucie Leydicke noch miterleben müssen. „Die letzten Jahre waren coronabedingt sehr schwer“, erinnert sich Raimon Marquardt. Er findet es nicht gerechtfertigt, dass er den Laden in den vergangenen drei Jahren zeitweise zumachen musste.
Auch kann er nicht verstehen, dass Kneipen, Bars und Clubs in Berlin strenger reglementiert wurden als etwa Restaurants. „Man fühlte sich bevormundet“, sagt der Wirt im Gespräch. „Die Resultate der Corona-Politik sehen wir ja jetzt, wo sich der Gesundheitsminister schon bei den Kindern entschuldigen muss.“
Jetzt aber will der Kneipier nach vorne schauen und erzählt von den regelmäßig stattfindenden Livekonzerten und Partys im „Leydicke“: Von Rock- und Pop- über Swing- bis hin zu Country-Musik sollte so ziemlich für jeden Geschmack etwas dabei sein. Stammgruppen in Marquardts Lokal sind die „Band des Polizeipräsidenten 110“ sowie die „Berlin Black Stompers“, eine Gruppe, die New Orleans Streetbeat mit aktuellen Stilen mischt. Der Gastronom will in seiner Traditionskneipe Menschen und Kulturen zusammenbringen. Durch Konzerte, aber auch durch öffentliche Podiumsdiskussionen. Der ehemalige US-Botschafter John Kornblum war schon mit dabei ebenso wie Sahra Wagenknecht und Gregor Gysi. Für eine weitere Podiumsdiskussion hat Raimon Marquardt jetzt den russischen Kulturattaché von Berlin eingeladen. Eine Zusage hat er schon, nur der Termin steht noch nicht fest. Er will den Kulturaustausch befördern, erläutert der Schönberger Wirt seine Motivation. „Damit man zusammenkommt und einander nicht ausgrenzt.“