Jedes Jahr kommen Tausende Touristen nach Churchill, um Eisbären zu beobachten. Ansonsten ist die kanadische Kleinstadt ein verschlafenes Nest an der Hudson Bay.
Ende November werden in Churchill die Bürgersteige hochgeklappt. Dann sind die knapp 900 Einwohner am nördlichsten Zipfel der kanadischen Provinz Manitoba wieder unter sich. Winnipeg, die nächstgelegene Stadt, ist 1.700 Kilometer weit entfernt. Erst im Juli erwacht das verschlafene Nest langsam aus dem Winterschlaf. Dann kommen die ersten Touristen, um die Belugawale zu beobachten, die sich im kurzen arktischen Sommer zu Tausenden im Chuchill River und in der Hudson Bay tummeln. Und etwas Ähnliches wie Geschäftigkeit zieht ein. Zumindest aus der Sicht der Einheimischen, denn auf Außenstehende wirkt Churchill eher wie ein ewiges „Omm“. So richtig lebendig wird die Stadt im Permafrostgebiet aber erst im Oktober, wenn die Eisbären aus ihrem Sommerquartier in den Wäldern südlich von Churchill zurückkommen. Dort am Ufer der Hudson Bay warten sie hungrig darauf, dass das Wasser endlich zufriert und sie hinaus aufs Eis können, um Robben zu fangen. Tausende Touristen aus aller Welt fliegen dann bis Ende November in kleinen Propellermaschinen aus Winnipeg ein, um die majestätischen Tiere zu beobachten und um unzählige Fotos von ihnen als „Jagdtrophäe“ mit nach Hause zu nehmen. Dick eingemummelt fahren sie mit riesigen geländegängigen Allradfahrzeugen, sogenannten Tundra Buggys, zur Hudson Bay und legen sich mit riesigen Teleobjektiven auf die Lauer.
Solange sich noch keine geschlossene Eisschicht gebildet hat, müssen sie nicht lange auf die Bären warten. Wer Glück hat, trifft auf eine Gruppe Eisbären, die eigentlich Einzelgänger sind: Halbstarke, die sehr zum Entzücken der Beobachter aneinander die Kräfte messen, fürsorgliche Mütter, die ihren im Januar geborenen Nachwuchs präsentieren und coole Neugierige, die schon mal ihre Nase gegen die Glasscheiben der Buggys drücken. Auf der anderen Seite klicken die Kameras im Dauerbeschuss, und nicht nur Kinder sind absolut hingerissen und würden gern mal über das weiche Teddyfell streicheln. Doch Eisbären sind alles andere als Kuscheltiere. Die Einheimischen können ein Lied davon singen.
Einzigartiges Eisbär-Kontrollprogramm
Rund 950 Polarbären – so nennen die Kanadier eines der größten an Land lebenden Raubtiere – zählt die Western-Hudson-Bay-Population, nirgendwo sonst gibt es eine höhere Konzentration. Die meisten wissen sich zu benehmen und machen einen großen Bogen um die selbst ernannte „Welthauptstadt der Eisbären“. Doch immer wieder tauchen einige – wohl angezogen vom verführerischen Duft, der aus den Wohnhäusern und Hotels strömt – auf der Suche nach Fressbarem in der Stadt auf. So eine Begegnung kann lebensgefährlich werden, denn die hungrigen Tiere sind nicht wählerisch bei ihrem Speiseplan. Vorsicht ist deshalb in Churchill oberstes Gebot. Bevor man das Haus verlässt, wird erst gründlich geschaut, ob die Luft rein ist. Keiner schließt hier das Haus oder Auto ab, im Ernstfall können offene Türen über Leben oder Tod entscheiden. Schon die Vorschulkinder kennen die Eisbären-Notrufnummer auswendig und lernen, wie man sich bei einer Begegnung richtig verhält: Ruhig bleiben, sich aber keinesfalls tot stellen, keine hastigen Bewegungen, sondern langsam rückwärtsgehen, den Bären dabei anschauen und sich in das nächste Gebäude oder Auto begeben.
Dass es in den vergangenen Jahren zu keinem folgenschweren Zusammentreffen mit den bis zu drei Meter großen und 800 Kilogramm schweren Raubtieren kam, ist auch einem weltweit einzigartigen Eisbär-Kontrollprogramm zu verdanken, das von Manitobas Naturschutzbehörde finanziert wird. Auch die weltweit einzige Eisbärenpolizei steht auf ihrer Gehaltsliste. Die sechs Männer fahren täglich Streife durch die Straßen von Churchill. Treffen sie auf einen der ungebetenen Besucher, versuchen sie, ihn aus der Stadt zu vertreiben. Nicht immer gelingt das problemlos. Besonders hartnäckige Bären, die sich auch von Warnschüssen nicht beeindrucken lassen, werden in Fallen gelockt oder betäubt und in den einzigen „Eisbärenknast“ der Welt gebracht. In dem schmucklosen Gebäude am Rande der Stadt bleiben sie drei Wochen ohne Futter, damit sie sich gar nicht erst an einen „Hotelservice“ gewöhnen, nur Wasser bekommen sie. Danach werden die Tiere ausgeflogen – im Winter auf die zugefrorene Hudson Bay, im Sommer weit hinaus auf ihre normale Wanderroute. Rund 100 Problembären müssen in jedem Jahr auf diese Art fühlen, weil sie partout nicht hören wollten.
Ohne die Bären wäre hier nichts los
Trotz so mancher Einschränkungen, die die Menschen in Churchill wegen der besonderen Nachbarschaft auf sich nehmen müssen – ohne die Bären wäre hier „der Hund begraben“. Der Ort hat nirgendwohin eine Straßenanbindung, die einzigen Verbindungen zum Rest der Welt sind von Winnipeg aus das Flugzeug und eine erst 1929 fertiggestellte Eisenbahnlinie durch eine menschenleere Landschaft, wo sich Schneefuchs und -hase „gute Nacht“ sagen. Zweieinhalb Tage braucht der Zug von Winnipeg bis Churchill, er ist so etwas wie die Nabelschnur zur Welt, bringt den Menschen alles, was sie zum Leben brauchen. Die Inuit, die schon 600 vor Christus hier siedelten, konnten sich ganz gut selbst versorgen, sie waren für ihre Zeit kulturell erstaunlich hoch entwickelt, wovon bis heute Spuren zeugen. Ihr Leben war arm, aber selbstbestimmt, was sich ab dem Winter 1619 änderte, als die ersten Europäer diesen Teil der Erde entdeckten. Allerdings kamen sie mit dem extrem rauen Klima zunächst nur schwer zurecht, bis 1717 die Hudson Bay Company mit einer hölzernen Befestigung an der Mündung des Churchill River die erste permanent bewohnte Siedlung errichtete. Sie gab den Pelzjägern und -händlern Schutz und Unterkunft. 1741 wurde das hölzerne Fort durch ein größeres aus Stein ersetzt, das französische Streitkräfte jedoch 40 Jahre später einnahmen und zerstörten. Später wieder aufgebaut, ist das Fort Prince of Wales heute ein beliebtes Ausflugsziel.
Mit der Fertigstellung der Eisenbahnlinie begann der wirtschaftliche Aufschwung Churchills. Der einzige am Arktischen Ozean gelegene Seehafen Kanadas entstand, von dem aus bis heute in der eisfreien Zeit allerlei Dinge in den arktischen Norden des Landes verschifft werden. Auch das Militär entdeckte die fast unbewohnte Region für sich, etablierte hier ein kanadisch-amerikanisches Luftfahrtprojekt. 1956 wurde die erste Rakete gezündet, bis 1984 gab es regelmäßige Starts. Heute befindet sich auf dem Gebiet des früheren Raketentestgeländes ein Institut zur Erforschung der Arktis, insbesondere der Eisbären. Das haben die Tiere auch verdient, denn, wenn man es genau nimmt, sind sie ja schließlich der größte und wichtigste „Arbeitgeber“ in Churchill.