In einer brasilianischen Küstenstadt gibt es eine seltene und ungewöhnliche Kooperation: Mensch und Delfin unterstützen sich bei der Jagd auf Meeräschen. Eine alte, für beide Seiten profitable Tradition.
Vor rund 150 Jahren war in einer lokalen Zeitung erstmals ein Bericht über ein ungewöhnliches Teamwork erschienen. An der Südküste Brasiliens, in einer Bucht vor der Hafenstadt Laguna, helfen sich die zwei bis knapp vier Meter langen Großen Tümmler und die dort ansässigen Netzfischer gegenseitig beim Fang der heimischen und bis zu 80 Zentimeter langen, silbrigen Meeräschen.
Seit gut einem Jahrzehnt beschäftigt sich die Wissenschaft intensiv mit dem Phänomen, um zu überprüfen, ob es sich tatsächlich um eine artenübergreifende Kooperation handelt und ob die Zusammenarbeit für beide Partner gewinnbringend sein kann. Im Jahr 2012 hatte ein internationales Forscherteam aus Brasilien, England und Schottland unter Federführung von Prof. Fábio Daura-Jorge von der brasilianischen Universität Santa Catarina vor allem die Auswirkungen der Kooperation auf das Sozialverhalten der Tiere beobachtet. Sie stellten fest, dass die Großen Tümmler ganze Meeräschen-Schwärme in die Fischernetze trieben und den Menschen offenbar per Flossenschlag das Startsignal für die Jagd gaben. Als Belohnung dafür hatten sie laut den Erkenntnissen der Wissenschaftler Beifang und Reste als leicht gewonnene Mahlzeiten erhalten. Überrascht hatte die Forschenden, wie sie in ihrer im Fachjournal „Biology Letters“ veröffentlichten Studie vermerkt hatten, dass sich nur knapp die Hälfte der versammelten Delfine an der gemeinsamen Jagd mit den Fischern beteiligte. Als mögliche Erklärung boten die Forschenden eine Kombination von Veranlagung, Ökologie und sozialem Lernen an. Laut den Wissenschaftlern hat dabei vor allem die Wissensvermittlung von älteren zu jüngeren Tieren vermutlich die zentrale Rolle gespielt.
Nur die Hälfte der Tiere beteiligt sich
2019 hatte ein Team um den Biologen Prof. Mauricio Cantor von der Universität Santa Catarina das kulturelle Jagdverhalten der Großen Tümmler rund um Laguna unter die wissenschaftliche Lupe genommen. Denn auch diese Forschergruppe konnte sich nicht erklären, warum sich nur ein Teil der Tiere an der Zusammenarbeit beteiligte. Hier fand das Team heraus, dass die Helfer-Delfine offenbar einen besonders engen Kontakt miteinander pflegen, also nicht nur während der Kooperation mit den Fischern. Dabei geben sie die für sie vorteilhafte Taktik des gemeinsamen Jagens mit den Menschen an ihre Artgenossen auf dem Weg des sozialen Lernens weiter. Prof. Cantor: „Delfine sind nicht nur enorm soziale Tiere, sondern auch bemerkenswert lernfähig.“ Ohne die Hilfe der Delfine würden die Fischer, so die Forschenden, im trüben Wasser der Bucht wesentlich weniger Beute machen. Als Kommunikationsmittel an die Fischer zum rechtzeitigen Auswerfen der Netze haben die Wissenschaftler ein Aufschlagen von Kopf oder Schwanzflosse auf das Meereswasser ausgemacht. Durch das Aufbrechen des Fischschwarms sei es für die Delfine deutlich leichter geworden, einzelne Meeräschen zu fangen, wodurch auch sie von der Kooperation mit den Menschen profitieren könnten.
Anfang 2023 wurde die bislang aufwendigste Studie im Fachjournal „PNAS“ veröffentlicht. 15 Jahre lang hat ein Team von Forschenden aus Brasilien und dem Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Konstanz unter Leitung von Prof. Mauricio Cantor die Zusammenarbeit von Mensch und Delfin mithilfe modernster Technik wie Drohnen, Sonar, GPS-Instrumenten an den Handgelenken der Fischer, Unterwasser-Mikrofonen und Unterwasser-Kameras überwacht. Erstmals konnte der konkrete Nachweis erbracht werden, dass nicht nur die Fischer, sondern auch die Meeressäuger aus der Allianz Vorteile ziehen können.
Die Kooperation basiert den Forschenden zufolge auf einer Besonderheit dieser speziellen Delfin-Population und ist keinesfalls eine genetische Eigenschaft der Tiere. Vielmehr geben sowohl die Delfine als auch die Fischer ihr Wissen über diese spezielle Zusammenarbeit an nachfolgende Generationen weiter. „Das Wasser hier ist wirklich trübe, und so können die Leute die Fischschwärme nicht sehen. Aber die Delfine benutzen Töne, um sie zu finden, geben kleine Klicks von sich“, so Prof. Cantor. Die Delfine treiben die mittels Klicklauten zur Echo-Ortung aufgespürten Schwärme unter Erhöhung der Fischdichte in Richtung Ufer, wo die Fischer dann mit ihren Handnetzen ins hüfthohe Wasser rennen. Sie warten dort mit dem Auswerfen der Netze auf Signale vonseiten der Delfine, wobei diese laut den Forschenden meist einen Sprung aus dem Wasser, einen markanten Flossenschlag oder ein urplötzliches Abtauchen in die Tiefe als Kommunikationsmittel benutzen. Die Fischer „warten darauf, dass Delfine ihnen exakt signalisieren, wo Fische sind“, so Prof. Cantor. „Aus Sicht der Fischer ist diese Praxis in vielerlei Hinsicht Teil der Kultur der Gemeinschaft. Sie eignen sich die dafür notwendigen Fähigkeiten von anderen Fischern an. Es war bekannt, dass die Fischer das Verhalten der Delfine beobachten, um festzustellen, wann sie ihre Netze auswerfen sollten. Aber wir wussten nicht, dass die Delfine aktiv mit den Fischern kooperieren.“
Der Nutzen der Zusammenarbeit für die Fischer konnte relativ exakt beziffert werden. Mithilfe der Delfine war der Fang der Meeräschen viermal so hoch als wenn die Fischer ihre Netze ohne tierische Unterstützung ausgeworfen haben. Sobald die Tümmler anwesend waren, war die Wahrscheinlichkeit, dass die Fischer tatsächlich Meeräschen fangen konnten, 17-mal höher als in jenen Fällen, in denen sie auf sich alleine gestellt waren. Auch die Delfine konnten durch die Kooperation mehr Beute machen, weil durch das Absenken der Netze der riesige Schwarm in kleinere Bestandteile aufgespaltet wurde und dadurch einzelne Fische leichter von den Meeressäugern gejagt werden konnten. Auch am Inhalt der Netze pflegten sich die Delfine gelegentlich schadlos zu halten, wie 61 Prozent der befragten Fischer bestätigten. Der größte Vorteil für die lokale Delfin-Population war laut Forschenden aber die um bis zu 13 Prozent deutlich erhöhte Überlebensrate. Das mag damit zusammenhängen, dass die Delfine in der Laguna-Bucht durch die Zusammenarbeit mit den Netzfischern vermeiden können, als Beifang bei anderen Fangmethoden elendig zugrunde zu gehen.
Die Tradition könnte bald verloren gehen
Das Ungewöhnliche an dieser Kooperation besteht darin, dass die meisten Beziehungen zwischen Arten, speziell auch zwischen Menschen und anderen Tieren, wettbewerbsorientiert ausgerichtet sind. „Aber nicht in diesem Fall – das macht dieses Verhalten so interessant“, so die Forschenden. „Es lehrt uns, unter welchen Bedingungen sich Kooperation entwickeln kann und unter welchen sie aussterben oder von einem kooperativen in ein kompetitives Verhältnis umschlagen könnte.“ Und genau letzteres Problem könnte in nächster Zukunft auftreten. Sowohl die Delfine als auch die Fischer sind auf eine starke und gesunde Fischpopulation angewiesen. Das ist aber angesichts des zahlenmäßigen Rückgangs des Meeräschen-Bestands in der Bucht, vermutlich wegen Wasserverschmutzung und industrieller Fangmethoden innerhalb der letzten Jahre, nicht mehr gewährleistet. Das hat laut den Wissenschaftlern schon zur Folge, dass das Interesse innerhalb der Fischerzunft, die uralte Tradition zu erlernen, deutlich nachgelassen habe.
Als Gegenmaßnahme raten die Wissenschaftler zur Erkundung der genauen Ursachen für den Rückgang der Meeräschen-Population, zur wirksamen Unterstützung nachhaltigen Fischfangs und zum bewussten Erhalt der traditionellen Wurfnetzfischerei, beispielsweise durch Festsetzung höherer Preise für die mit dieser umweltschonenden Fangweise erbeuteten Fische. „Eine solche für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit zwischen Wildtieren und Menschen wird immer seltener“, so Prof. Cantor, „und ist weltweit gefährdet. Ihr kultureller Wert und die biologische Vielfalt, auf der sie beruht, sind unschätzbar und müssen erhalten werden.“