In „Die Fabelmans“ lässt Steven Spielberg seine Kindheit und Jugend Revue passieren. Nach über 30 Spielfilmen hat er sich getraut, diese Erinnerungen auf der großen Leinwand zu erzählen: ein bewegender Tribut an seine Eltern und eine Hymne auf das Kino.
Der Schock sitzt tief. Gerade wurde Sammy Fabelman Zeuge, wie ein Auto frontal mit einem rasenden Zug zusammenstößt. Der Zug entgleist, das Auto explodiert, Einzelteile fliegen durch die Luft. Das Unglück ereignet sich im Kino, wo sich Sammy zusammen mit seinen Eltern gerade den Zirkus-Film „Die größte Schau der Welt“ ansieht. Der Unfall knallt mit Wucht in die Psyche des Achtjährigen. Und wirkt lange nach. Doch schon bald spielt Sammy die Tragödie mit seiner Modelleisenbahn und einem Spielzeugauto im elterlichen Wohnzimmer nach. Immer und immer wieder. Sammy will einfach herausfinden, wie dieser effektvoll inszenierte Zusammenstoß funktioniert. Sein Vater Burt (Paul Dano) ist darüber wenig erfreut. Aber seine Mutter Mitzi (Michelle Williams) gibt ihrem Sohn den Rat, das Desaster doch mit der Super-8-Kamera des Vaters zu filmen. So könnte Sammy es sich immer wieder auf der Leinwand anschauen, ohne seine Spielzeuge kaputtzumachen. Sammy nimmt den Vorschlag an – und filmt. Ein Schlüsselmoment in seinem Leben.
Im Laufe von Spielbergs fiktionalisierten Erinnerungen „Die Fabelmans“ wird es noch einige Schlüsselmomente geben. Zum Beispiel als sein Alter Ego Sammy als Teenager (Gabriel LaBelle) mit Freunden einen Kurzfilm über Revolverhelden dreht oder einen Kriegsfilm nachstellt. Natürlich führt Sammy auch da schon Regie. Und er ist erfinderisch. Um das Mündungsfeuer der Schusswaffen seiner Akteure auf der Leinwand echt aussehen zu lassen, piekst er einfach mit der Nadel in den bereits entwickelten Filmstreifen. Mit verblüffendem Effekt, wie ihm ein dankbares Publikum bei der Filmvorführung versichert.
Vom Teenager zum Filmemacher
Natürlich macht Sammy auch „Home Movies“, die dann im Familienkreis gezeigt werden. Bei einem Camping-Ausflug der Fabelmans ist einmal auch der Familienfreund Bennie (Seth Rogen) mit dabei. Eines Nachts legt Mutter Mitzi – leicht angesäuselt – in ihrem durchsichtigen Nachthemd einen zauberhaften Feen-Tanz hin, den der inzwischen 16-jährige Sammy gekonnt auf Zelluloid bannt. Bennie scheint von der Performance sehr angetan zu sein – Burt allerdings weniger, und die drei Fabelman-Töchter schon gar nicht. Am nächsten Tag filmt Sammy dann zufällig, wie seine Mutter und Bennie beim Spazierengehen Händchen halten. Als Sammy sich das Filmmaterial daheim anschaut, schneidet er vor der abendlichen Vorführung die besagte Sequenz heraus. Denn er weiß leider nur zu gut, was sie bedeutet. Sammy lernt schnell, wie wichtig es ist, einen Film zu bearbeiten, zu edieren, bereits gedrehte Szenen besser wegzulassen, um eine ganz bestimmte Version der Wahrheit zu präsentieren. Steven Spielberg wird diese Schnitttechniken später in seinen Kinofilmen zu wahrer Meisterschaft bringen.
Im Laufe der Geschichte gibt es viele solcher aufschlussreicher Momente, die zeigen, wie Sammy/Steven zu einem versierten Filmemacher heranreift. Das Herzstück des Films ist aber – bei aller cineastischen Schwärmerei – die bittersüße Hommage an seine Eltern. Spielberg gibt uns Einblicke in das Spannungsfeld, in dem er aufwuchs. In einem Interview sagte er: „Meine Eltern hatten grundverschiedene Leidenschaften. Mein Vater war Elektroingenieur, meine Mutter eigentlich Konzertpianistin. Von ihr habe ich wohl meine artistische Ader geerbt, von meinem Vater den technischen Verstand und Wissensdurst. Bei uns zu Hause war immer etwas los, also wurde es für mich und meine Schwestern nie langweilig.“ Das klingt interessant, verbirgt aber die tragischen Aspekte. Spielbergs Mutter hatte ihre Karriere zugunsten der Kindererziehung aufgegeben. Und maskierte ihre depressive Stimmung oft mit aufgesetzter Heiterkeit. Sein Vater, der stille und verständnisvolle Typ, überließ das eheliche Feld bald Bennie. Was folgte, war die Scheidung der Eltern. Für Spielberg ein Schock, der ihn traumatisierte.
Es ist kein Zufall, dass in vielen seiner früheren Filme – von „Unheimliche Begegnung der dritten Art“, „E.T. – Der Außerirdische“, „Die Farbe Lila“ bis zu „Das Reich der Sonne“ – familiäre Probleme, Trennungen und die Sehnsucht nach Harmonie die zentralen Themen waren. „Im Grunde genommen“, so Spielberg, „sind viele meiner Filme schon immer sehr persönlich, ja verdeckt autobiografisch gewesen.“
Spielbergs persönlichster Film
Ein weiteres wichtiges Thema im Film ist der Antisemitismus, mit dem Sammy auf der Highschool konfrontiert wurde. Zum ersten Mal in seinem Leben spielte seine jüdische Abstammung eine Rolle. Sammy wurde gehänselt und verprügelt, fand aber auch Freunde, die zu ihm standen. Die Konflikte, die aus diesen hasserfüllten Konfrontationen entsprangen, öffneten Sammy mit einem Mal die Augen. Und haben Spielberg sicherlich für den Antisemitismus sensibilisiert. Er wird sich später in seinem Holocaust-Film „Schindlers Liste“ damit auseinandersetzen und außerdem die Shoah Foundation ins Leben rufen. Nach weiteren Umzügen und Turbulenzen landet Sammy schließlich in Los Angeles. In der Traumfabrik Hollywood hofft er, dass sein größter Wunsch – Regisseur zu werden – endlich in Erfüllung geht. Doch zunächst nimmt niemand den ambitionierten Newcomer richtig ernst. Schließlich kommt er beim Universal-Filmstudio als TV-Regisseur unter. „Die Fabelmans“ endet mit einem furiosen Schlussakkord: Sammy erhält von Regie-Legende John Ford (grandios: David Lynch) einen Crash-Kurs in Sachen Film-Perspektiven.
Am kommenden Sonntag hat der dreifache Oscarpreisträger Steven Spielberg beste Chancen, bei der 95. Oscar-Verleihung für „Die Fabelmans“ seinen vierten Oscar in der Kategorie Bester Film zu bekommen. Und den Preis dann seiner Mutter zu widmen. Denn sie sagte ja schon vor vielen, vielen Jahren: „Steven, du musst einen Film über uns machen, wir liefern dir so tollen Stoff.“