Der Begriff „toxische Beziehungen“ ist in den letzten Jahren zu einem Modewort avanciert – doch was versteht man wirklich darunter? Expertin Annika Felber spricht im Interview unter anderem über emotionale Abhängigkeiten.
Frau Felber, Unstimmigkeiten und Streit gibt es in jeder Beziehung. Ab wann spricht man von einer ungesunden, toxischen Beziehung?
Diese Frage würden unterschiedliche Fachleute wohl ganz unterschiedlich beantworten, da es bisher keine einheitliche wissenschaftliche Definition für toxische Beziehungen gibt. Ich spreche immer dann von einer ungesunden, toxischen Beziehung, wenn mindestens eine der Beziehungspartnerinnen, einer der Beziehungspartner dauerhaft psychisch oder physisch leidet und es dennoch nicht gelingt, die vorherrschende Dynamik nachhaltig zu verändern oder die Beziehung zu verlassen. Ungesunde, toxische Beziehungen sind geprägt von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Dauerstress.
Finden sich ungesunde Beziehungsdynamiken in Paarbeziehungen öfter als in anderen Beziehungen?
Grundsätzlich kann jede Beziehung eine ungesunde Dynamik entwickeln. Man denke zum Beispiel an Mobbing am Arbeitsplatz, gewaltausübende Eltern oder eine Freundschaft, in der ein Freund oder eine Freundin dauerhaft mehr gibt als der oder die andere. Ich würde allerdings sagen, dass der Leidensdruck sich unterschiedlich ausprägt. Je intimer die Bindung, desto mehr beeinflusst eine toxische Beziehung die Lebensqualität. Dementsprechend stehen toxische Partnerschaften häufig mehr im Fokus als toxische Freundschaften oder Arbeitsbeziehungen.
Was sind die Merkmale einer toxischen Beziehung?
Das zentrale Merkmal, an dem man als Betroffener erkennen kann, dass man sich in einer ungesunden Beziehungsdynamik befindet, ist dauerhafter seelischer und körperlicher Stress. Gewalt und emotionale Abhängigkeit führen zu einer erhöhten Cortisolausschüttung. Dementsprechend kann es zu typischen Stresssymptomen kommen, die viele zunächst gar nicht mit ihren Beziehungen in Verbindung bringen. Hierzu zählen zum Beispiel Ein- und Durchschlafstörungen, Konzentrationsstörungen, oder aber somatische Symptome wie Schmerzen, Herzrasen, Atemnot oder Schwindel. Weitere Merkmale toxischer Beziehungen sind ein Ungleichgewicht zwischen Geben und Nehmen oder zwischen Autonomie und Bindung sowie fehlende Augenhöhe, mangelnder Respekt und die Unfähigkeit, Konflikte gewaltfrei und lösungsorientiert auszutragen.
Wie sehen solche Beziehungen in der Praxis aus? Mit welchen Problemen kommen zum Beispiel Ihre Klienten zu Ihnen?
Einzelpersonen wenden sich vornehmlich an mich, weil sie in einer emotionalen Abhängigkeit zu einem Menschen stehen, der Gewalt auf sie ausübt oder ihnen im weitesten Sinne nicht guttut. Hier reicht die Range vom klassischen Gebertyp, der sich ausgenutzt fühlt, bis hin zu Menschen, die massiv manipuliert und kontrolliert werden. Aktuell habe ich zum Beispiel eine Klientin, die von der Wohnung einer Freundin mit einem unbekannten Gerät in unsere Online-Meetings kommt, damit ihr Partner unsere Treffen nicht nachverfolgen kann. In solchen Fällen bin ich als Coachin vornehmlich zur Weiterleitung an professionelle Fachstellen da.
Paare kommen aus anderen Gründen. Beide Parteien leiden in der Partnerschaft meist zu gleichen Teilen unter bestimmten „Dauerbrennerthemen“. Um diese kreisen sie immer wieder aufs Neue, ohne zu einer Lösung zu gelangen. Das können zum Beispiel Nähe-Distanz- sowie Geber-Nehmer-Konflikte oder auch wiederkehrende eskalierende Streite um vermeintliche Nichtigkeiten sein. Ich habe auch immer wieder Fälle außerhalb von Partnerschaften in meinem Coaching. Zum Beispiel zerstrittene Familien, Mobbingopfer oder Menschen, die Auswege aus ungesunden Arbeitsstrukturen suchen.
Es gibt einseitige toxische Beziehungen und wechselseitig toxische Beziehungen. Worin liegen die Unterschiede?
Unter einseitig toxischen Beziehungen versteht man all jene Beziehungen, in denen die destruktive Dynamik bewusst von einem Beziehungspartner oder einer Beziehungspartnerin generiert wird. Hierunter fallen jegliche Formen von Gewaltbeziehungen. Wechselseitig toxische Beziehungen werden hingegen von beiden Beziehungspartnern/Beziehungspartnerinnen kreiert und aufrechterhalten. Klassische Beispiele sind hier Beziehungen zwischen Geber- und Nehmertypen oder Nähe- und Distanzpolen.
Wenn in einer Beziehung oft gestritten wird, jemand häufig beleidigt ist und dann nicht mit dem anderen redet et cetera, fällt in den letzten Jahren oft gleich der Begriff „toxisch“. Hat dieser „Toxic Boom“ viele Nachteile?
Sofern keine Gewalt im Spiel ist, tragen immer beide Beziehungspartner oder -partnerinnen zu fünfzig Prozent die Verantwortung für das, was in der Beziehung geschieht. Insbesondere ungesunde Beziehungsdynamiken bringen häufig eigene Themen und Defizite zutage. Der Begriff „toxisch“ kann Menschen dazu verleiten, die Verantwortung für bestehende Schwierigkeiten allein beim vermeintlich giftigen Gegenüber zu suchen. Dabei können die eigenen Anteile an der Misere schnell aus dem Blick verloren werden. Dies kann wiederum dazu führen, dass jede Menge Beziehungs- und Wachstumspotenzial verschenkt wird. Hinzu kommt, dass eine überproportionale, unüberlegte Verwendung des Begriffs im schlimmsten Fall dazu führen kann, dass Opfer psychischer Gewalt nicht mehr ernst genommen werden. Es besteht eben ein großer Unterschied darin, ob mein Gegenüber sich beleidigt zurückzieht, mich im Streit anpöbelt, mich ghostet oder ob es systematisch und gezielt Methoden einsetzt, um mich zu schwächen.
Mit toxischen Beziehungen wird in pseudowissenschaftlichen Medien oft der Begriff Narzissmus verbunden, viele Menschen gelten heute zu Unrecht als Narzissten. Hat dieser Trend Nachteile? Und gibt es wirklich oft einen Zusammenhang zwischen Narzissmus und toxischen Beziehungen?
Das Hauptproblem besteht meiner Meinung nach darin, dass psychische Gewalt mit Narzissmus gleichgesetzt wird. Etwa 0,4 Prozent der Gesamtbevölkerung leiden unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung (NPS). Hingegen ist jeder vierte Mensch im Laufe seines Lebens mindestens einmal von partnerschaftlicher Gewalt betroffen. Der Zusammenhang kann demnach nicht lauten, dass jede toxische Beziehung aus mindestens einem Menschen mit NPS bestehen muss, so wie es derweil häufig beispielsweise auf Social-Media-Kanälen suggeriert wird. Richtig ist vielmehr, dass jede Beziehung zu einem Menschen, der körperliche und psychische Gewalt ausübt, toxisch ist. Und ein Großteil der Menschen mit NPS übt in der Tat in Beziehungen Gewalt aus. In jedem Fall sollte man immer beachten, dass es sich bei einer NPS um eine Diagnose handelt, die nicht von Laien gestellt werden kann.
Viele Menschen in ungesunden Beziehungen sind emotional abhängig. Wie können sich Betroffene aus emotionaler Abhängigkeit lösen?
Wenn man dazu tendiert, sich in emotionale Abhängigkeiten zu begeben, liegt die Ursache hierfür (fast) immer in der eigenen Biografie. Als Menschen wiederholen wir in späteren Beziehungen das, was wir als Kind kennengelernt haben. Um sich dauerhaft aus seinen jetzigen Verhaltensmustern zu lösen, ist es demnach nötig, sich mittel- und langfristig mit den negativen Beziehungserfahrungen in der eigenen Familie auseinanderzusetzen. Die Lösung liegt darin, sich von diesen Erfahrungen autonom zu machen und Stück für Stück eigene, familienunabhängige Beziehungsstrukturen zu entwickeln. Parallel dazu kann es hilfreich sein, in aktuellen Beziehungen Grenzen zu setzen und die eigenen Bedürfnisse kennenzulernen und zu kommunizieren. Ebenso ist es wichtig, selbstfürsorglich mit seinem Körper, seiner Seele und seinen Ressourcen umzugehen und mehr von dem zu tun, was den eigenen Selbstwert stärkt.
In welchen Fällen raten Experten gleich zu einer Trennung, in welchen kann man an der Beziehung arbeiten?
Sind beide gewillt, an sich und an der Beziehung zu arbeiten, sehe ich großes Potenzial in vielen ungesunden Dynamiken. Menschen finden in wechselseitigen Dynamiken meist zueinander wie der Schlüssel zum Schloss. Da kann der andere nicht selten ein Geschenk sein, das man nur auszupacken wissen muss. Im Umkehrschluss heißt das, dass eine Trennung immer dann nötig ist, wenn eine beziehungsweise einer nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, etwas an der vorherrschenden Dynamik zu verändern. Dies ist vornehmlich in Täter-Opfer-Beziehungen der Fall. Menschen, die auf andere Gewalt ausüben, haben kein Interesse daran, die ungesunde Dynamik zu verändern, weil sie sie bewusst und gezielt kreieren, um ihr Gegenüber zu dominieren und zu kontrollieren.
Wie löst man sich am besten aus toxischen Beziehungen, ohne dass es zu einer Eskalation kommt – gerade bei sehr aggressiven, schon handgreiflich gewordenen Partnern?
Ich würde immer dazu raten, sich in Fällen von Gewalt an entsprechende Beratungsstellen zu wenden, zum Beispiel an den Weißen Ring, das Hilfetelefon oder regionale Frauen- und Männerberatungsstellen. Man sollte sich auf eine Trennung immer gut vorbereiten. Hierzu gehört nicht nur die mentale und emotionale Vorbereitung, sondern auch das Einbinden von Experten und Expertinnen und nahen Bezugspersonen, zum Beispiel Eltern oder Freunde und Freundinnen. Es kann hilfreich sein, öffentliche Plätze zu wählen und jemand Vertrautes in der unmittelbaren Nähe zu wissen. In besonders schweren Fällen würde ich eher zur heimlichen Flucht raten. Man ist einem gewaltausübenden Gegenüber nichts schuldig. Erklärungen und Rechtfertigungen führen bei Tätern und Täterinnen ohnehin zu nichts und sind lediglich ein Einfallstor für Überredungsversuche.
Wie kann ein Coaching hier aussehen?
Der erste Schritt ist immer die Bewusstwerdung der Probleme. Welche Konflikte treten immer wieder auf? Welches Thema begleitet die Beziehung? Welche Dynamik beziehungsweise welche Rollenverteilung liegt vor? Auf der Basis der Ist-Analyse wird nun gemeinsam ein Wunsch-Zustand bestimmt. Um diesen zu erreichen, ist es wichtig, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass in erwachsenen Beziehungen jede Partei fünfzig Prozent der Verantwortung trägt. Ein Nehmertyp zum Beispiel kann nur so viel nehmen, wie ein Gebertyp zu geben bereit ist. Dabei gilt, dass jedes Verhalten (auch) immer einen Gewinn hat. Ein Gebertyp sieht sich zum Beispiel gemeinhin gern als Opfer, dabei hat er mit seinem Verhalten die maximale Kontrolle über die Beziehung. Ein Nehmertyp hingegen kann sich mit einem Verhalten zum Beispiel vor Verantwortungsübernahme drücken. Soll sich dauerhaft in der Beziehungsdynamik etwas verändern, reicht es nicht, Aufgaben umzuverteilen. Vielmehr muss jeder, jede für sich selbst verstehen, warum sein beziehungsweise ihr individueller Gewinn für ihn beziehungsweise sie besonders wichtig ist und was es braucht, diesen aufzugeben. So hat ein Gebertyp möglicherweise kein Zutrauen in andere oder er fürchtet sich vor Ohnmacht. Für ihn kann es hilfreich sein, in kleinen Schritten zu erfahren, dass er sich auf sein Gegenüber verlassen kann. Der Nehmertyp hingegen hat zumeist seinerseits wenig Zutrauen in sich selbst. Er muss lernen, Selbstvertrauen aufzubauen, indem er zum Beispiel Aufgaben übernimmt, vor denen er sich bis dato gedrückt hat.
Bei welchen Fällen genügen Coachings, wie Sie sie anbieten, und wann sollten Betroffene einen Psychologen/Psychotherapeuten aufsuchen?
Viele einseitige toxische Dynamiken fußen auf traumatischen Erfahrungen in der Kindheit. Dies gilt sowohl für Täter beziehungsweise Täterinnen als auch für Opfer. Diese aufzuarbeiten, fällt zum einen aus rechtlicher, zum anderen aus ethischer Sicht nicht in den Aufgabenbereich von Coaches. Hier braucht es qualifizierte Psychotherapeuten und -therapeutinnen mit Trauma-Schwerpunkt. Menschen mit bekannten psychischen Erkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen sollten sich ebenfalls in psychotherapeutische Hände begeben. Hier kann ein Coach bestenfalls als Wegbegleiter hilfreich sein.