Altes Rathaus statt Schloss Bellevue. Drei Tage war der Amtssitz des Bundespräsidenten in der saarländischen Mittelstadt Völklingen, die für große wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbrüche steht. Was das Staatsoberhaupt erfahren hat: Zuversicht und Optimismus.
Die Flagge des Bundespräsidenten vor dem Alten Rathaus in Völklingen hat viele zum schnellen Foto gereizt, aber mindestens ebenso und vielleicht noch mehr die Dienstlimousine des Staatsoberhauptes vor dem hinteren Eingang. Immer unter wachsamen Augen von unübersehbarer Polizeipräsenz – und etwas weniger auffälligem Sicherheitspersonal – ließen sich vor allem etliche Jugendliche vor dem Dienstwagen mit dem Kennzeichen „0-1“ fotografieren oder machten schnell ein Selfie.
Allzu oft bietet sich so eine Gelegenheit schließlich nicht. Auch die nicht, das Staatsoberhaupt beim Gang durch die eigene Stadt mal selbst kurz anzusprechen. Der Bundespräsident war zwar bestens geschützt wie auch der vorübergehend ins Alte Rathaus von Völklingen verlegte Amtssitz, aber doch so, dass immer wieder auch ein spontaner, persönlicher Kontakt möglich – und ausdrücklich erwünscht – war. Und wenn es beim Gang durch die Straßen nicht gelungen sein sollte, Gelegenheiten bei den zahlreichen anderen Terminen gab es reichlich.
Dorthin gehen, „wo noch nicht alles gut ist“, und sich genau dort anhören, was die Menschen im Land umtreibt, das ist die Idee für die „Ortszeit des Bundespräsidenten“. Drei Tage weg vom imposanten Schloss Bellevue und rein ins Land, wo es nicht so beschaulich und staatstragend zugeht. Nicht in Hauptstädte und Metropolen. Ziel sind Mittelstädte, in denen das Staatsoberhaupt erleben und spüren will, „was die Menschen bewegt, wie sie in Zeiten des Epochenbruchs auf ihr Land schauen und wie sich die großen politischen Entwicklungen vor Ort auswirken“, hieß es bei der Ankündigung. Völklingen schien da bestens geeignet. Die Stadt hat einiges zu bieten für jemanden, der erfahren möchte, was Menschen in Umbrüchen umtreibt. Zum Beispiel in Sachen Migration und Integration oder Strukturwandel, der in seiner verschärften aktuellen Variante Transformation heißt.
Völklingen ist die sechste Station der „Ortszeit Deutschland“. Der Bundespräsident hatte vor einem Jahr bei seiner Wiederwahl angekündigt, er wolle „schärfere Eindrücke gewinnen davon, was die Menschen umtreibt und auch motiviert, Verantwortung zu übernehmen, und was dies wiederum für politische Entscheidungsträger bedeuten kann“. Seine ersten Stationen führten ihn zum Beispiel in ostdeutsche Städte, in denen selbst ernannte „Querdenker“ besonders aktiv sind oder die AfD besonders hohe Wahlergebnisse erzielt hat.
In Völklingen liegen die Dinge anders. Seit der Schließung der Völklinger Hütte (1986) berappelt sich die Stadt nur mühsam. Die Völklinger Hütte ist inzwischen Weltkulturerbe, das erste industrielle auf der Unesco-Liste. Das strahlt zwar weit über die Grenzen des Landes hinaus und zieht viele Besucher an, die Stadt selbst in ihrer gewachsenen Struktur kann davon aber nur bedingt profitieren. Die Innenstadt verödete nach dem großen Bruch, eine neue Struktur entwickelt sich erst mühsam. Erste große private Investitionen in der Innenstadt, um die lange gerungen wurde, verändern inzwischen sichtbar das Bild der Stadt.
Erfahren, was Menschen wirklich umtreibt
Gleichzeitig kämpft Saarstahl – einmal mehr – um seine Zukunft. Und die heißt „grüner Stahl“. Frank-Walter Steinmeier ließ sich das mit Milliardeninvestitionen verbundene Projekt vor Ort erläutern. Grüner Stahl, erzeugt mit Wasserstoff, hört sich zukunftsweisend an, ist aber alles andere als ein risikoloses Unterfangen, schließlich steht man in globalem Wettbewerb. Was den Bundespräsidenten beim Besuch von Saarstahl und den Gesprächen offensichtlich so beeindruckte, dass er im weiteren Verlauf seiner Tage in Völklingen immer wieder darauf zurückkam, waren die Zuversicht und der Optimismus, mit denen die Menschen, von der Unternehmensführung bis zu den Mitarbeitern, diese Herausforderung angehen.
Der Besuch des Bundespräsidenten lenkt auch durch die mediale Begleitung Aufmerksamkeit auf Regionen und damit auch Aspekte, die nicht unbedingt überregional geläufig sind. Dass das Saarland mit der Stahlindustrie und seiner auf Automobil und dabei (noch) auf Verbrenner ausgerichteten Industriestruktur vor ganz besonderen Transformationsherausforderungen steht, mehr als jedes andere Bundesland, wird vor Ort eindrücklich greifbar. Aber eben auch die von Steinmeier hervorgehobene Zuversicht, mit der die Menschen diese Herausforderung anpacken. Sie ist bezeichnend für ein Land, das bereits eine ganze Vielzahl von Strukturbrüchen bewältigt und sich dabei immer wieder quasi neu erfunden hat. Dieser Eindruck unterstreicht, was das Saarland selbst von sich behauptet: „Wir können Strukturwandel“. So ordnet der Bundespräsident auch den „Transformationsfonds“ als mutiges Vorhaben ein, das gelingen könne.
Dafür spricht auch, dass der Bundespräsident das Saarland schon auch mal in einem Atemzug mit München nennt. Die vor wenigen Wochen im Beisein von Bundeskanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck vorgestellte Großinvestition in eine Halbleiterfabrik im saarländischen Ensdorf hat sich längst auch weit über die Landesgrenzen hinaus herumgesprochen. Damit steht das Land noch nicht ganz in einer Reihe mit Standorten wie eben München, wo sich einiges in dieser Branche tut, aber es ist ein klares Ausrufezeichen. Und gut, auch mal mit München in einem Atemzug genannt zu werden statt immer nur mit anderen Regionen, die auch im Strukturwandel kämpfen. Das weiß auch Frank-Walter Steinmeier, der in Detmold geboren ist, wenn er davon spricht, „wie mitleidig manchmal auf alte Industrien“ geschaut werde. Der Blick aufs Saarland ist mit der Ansiedlung der Chip-Fabrik von Wolfspeed sicher ein anderer geworden.
Vielleicht hat diese Herkunft aus Nordrhein-Westfalen mit dazu beigetragen, dass sich das Staatsoberhaupt in den drei Tagen an seinem Amtssitz Völklingen sichtlich wohl gefühlt hat. Das war bei den unterschiedlichsten Besuchen und Gesprächen zu spüren, ob im Boxclub oder bei Stadtteilmüttern. Begegnungen, bei denen sich die Themen Migration und Integration durchzogen.
Bildung als zentrales Gesprächsthema
Das war auch nicht anders bei einem zentralen Programmpunkt des Präsidentenbesuchs: „Kaffeetafel kontrovers“. Dabei diskutierte der Bundespräsident mit Gästen aus den unterschiedlichsten Bereichen, von der Vorsitzenden des Integrationsbeirats über Vertreter der Wirtschaft, der Arbeitsagentur bis zu einer Schülerin. Die Runde war ganz schnell zu einem Thema gekommen, das alle sichtlich umtreibt: „Bildung, Bildung, Bildung“. In der Sache selbst beherrschten die bekannten Probleme die Diskussion, bemerkenswert war trotzdem, wie dominant das Thema war gegenüber einer ganzen Reihe von anderen Themen, die zwar punktuell angesprochen wurden, aber nicht intensiver zum Zuge kamen. Dazu gehörte beispielsweise die grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Im Saarland insgesamt und in den Grenzkommunen wie eben Völklingen ein Dauerthema im Alltag. Auch weil bei allen Selbstverständlichkeiten und Fortschritten nach wie vor Hürden den Alltag aus Sicht der unmittelbar Betroffenen unnötig erschweren, wie beispielsweise im Gesundheitssystem. Das Problem sind in der Regel nicht nur die Unterschiede in vielen Bereichen, die das Zusammenleben an der Grenze nach wie vor in etlichen Bereichen hemmen, sondern dass zur Harmonisierung in aller Regel Staatsverträge zwischen Berlin und Paris notwendig sind, um Hemmnisse abzubauen. Und für die Hauptstädte ist nunmal eine Grenzregion mit ihren spezifischen Herausforderungen oft ziemlich weit weg. Diese Botschaft hat der Bundespräsident durchaus registriert, wie seinen Nachfragen zu entnehmen war, zumal ihm selbst das Thema Europa in der Grenzregion ein Anliegen war.
Drei Tage Amtssitz des Bundespräsidenten in der 40.000 Einwohner zählenden Mittelstadt Völklingen: Was bleibt davon, außer schönen und eindrucksvollen Bildern? Die Frage wird durchaus das ein oder andere Mal aufgeworfen. Aus Sicht des Staatsoberhaupts gibt es unterschiedliche Antworten. Zum einen will er seine „Ortszeit“ als Signal verstanden wissen für Zuhören. In der Tat war der Besuch nicht von den großen staatsmännischen Reden geprägt, auch wenn Frank-Walter Steinmeier die ein oder andere Botschaft klar formulierte. Beispielsweise, als er im Weltkulturerbe Völklinger Hütte insgesamt elf „außergewöhnliche Männer und Frauen“ persönlich mit dem Bundesverdienstkreuz auszeichnete.
„Demokratie und Zusammenhalt, das sind keine abstrakten Werte“. Demokratie brauche Menschen, die sich „an ihr beteiligen und für sie eintreten, die anpacken und sich für andere einsetzen“. Das ist eben keine Selbstverständlichkeit vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen. Deshalb betont der Bundespräsident: „Sie machen unser Land besser und gerechter. Sie leben Zusammenhalt. Sie leben in einem Geist des Miteinander. Und ich bin überzeugt: Von diesem Geist werden wir in den kommenden Jahren noch viel mehr brauchen.“
„Hoffnung, Ideen, Träume, Engagement“
Die Botschaft des Zuhörens hatte wohl zwei Adressaten: Zum einen natürlich die Menschen, mit denen er vor Ort selbst das Gespräch suchte, zum anderen aber wohl auch den Blick auf die so genannte „große Politik“, von der er selbst aus seiner aktiven Laufbahn weiß, wie weit weg die zuweilen von den konkreten Fragen und Sorgen der Menschen vor Ort sein kann. Steinmeier selbst wird – neben der medialen Aufmerksamkeit, die aber bekanntlich oft nur eine Eintagsfliege ist – die ein oder andere inhaltliche Botschaft in Gesprächen in Berlin einspeisen. Wie der Wandel gelingen kann und dass es dabei gerecht zugeht: Das sei es, was die Menschen umtreibt. In Völklingen habe er „gehört und gespürt, wie viel Hoffnung, Ideen, Pläne und Träume, wie viel Engagement es hier gibt“.
Das wird er als Grundeindruck aus dem Saarland mitnehmen – und weitertragen. Mehr kann er als Bundespräsident nicht – aber das kann eine ganze Menge sein. Und für die Stadt selbst und das Land hat es einen eigenen Wert, wenn der Bundespräsident den Eindruck mitnimmt, dass hier keine Untergangsstimmung herrscht, sondern eben „Optimismus und Zuversicht“.