Die Region Gand Est ist ein künstliches Produkt der französischen Gebietsreform. Das Megakonstrukt ist brüchig, das Elsass will raus. Wenig verwunderlich bei all den Konstruktionsfehlern, analysiert der Europa-Experte Richard Stock.
Sieben Jahre gibt es nun die Megaregion Grand Est, von Paris aus künstlich geschaffen aus den einstigen Regionen Lothringen, Elsass und Champagne-Ardenne. Und im verflixten siebten Jahr will Elsass lieber heute als morgen aussteigen. Eine Neuordnung der Regionen, wie sie in der französischen Presselandschaft Anfang des Jahres rauf und runter diskutiert wurde, bliebe für das Saarland sicher nicht folgenlos.
Richard Stock kennt das innere Seelenleben der französischen Regionalisierungsbestrebungen der letzten Jahrzehnte sehr gut. Er ist Generaldirektor des Centre Européen Robert Schuman in Metz-Scy-Chazelles, Vorsitzender der Europäischen Akademie Nordrhein-Westfalen und Experte für europäische Fragen über die Region Grand Est.
Sein Fazit nach sieben Jahren Grand Est ist ernüchternd: Die schon unter Präsident Nicolas Sarkozy angestoßene Regionalisierung, von François Hollande vollendet und von Emmanuel Macron veredelt, hat nicht das gehalten, was sich einige französische Regionen von ihr versprochen haben. Das ursprüngliche Vorhaben, die Regionen von einst 22 auf 13 zu reduzieren, um Geld zu sparen und dabei die Dezentralisierung voranzutreiben, bezeichnet Stock als Misserfolg. Die Gründe liegen auf der Hand: Der Neuzuschnitt der Regionen, unter Hollande hastig umgesetzt, sei demokratisch nicht legitimiert gewesen, denn wenn Grenzen von Gebietskörperschaften geändert würden, müsste das Volk zuvor per Referendum befragt werden. So steht es in der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung niedergeschrieben, die vom französischen Parlament ratifiziert wurde. Das sei nicht geschehen. „Was aber viel schwerer wiegt, ist die Tatsache, dass sich der Zuschnitt von Grand Est nicht nach Identitäten, geografischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten sowie Infrastrukturen ausgerichtet hat, sondern nur dem Motto ‚Größe geht vor‘ gefolgt ist.“ Ein Dilemma, das sich wohl nur durch die Brille des zentralistisch ausgerichteten Staatsapparates Frankreichs erklären lässt, denn Dezentralisierung, wie Paris sie versteht, hat nichts mit Regionalisierung zu tun. Im Gegenteil: Die von Paris aus mit allen Vollmachten ausgestatteten Präfekten überwachen mehr denn je die zentral gesteuerte Politik in den Regionen. Je größer diese sind, umso besser lassen sie sich an der Leine führen. Da erstaunt es kaum, dass das Elsass sich aus diesen Fesseln gern befreien würde und auf mehr Eigenständigkeit pocht. Schon der Name Grand Est, der im Deutschen mit Großer Osten übersetzt wird, lässt keine Identität zu und könnte in jedem Land der Welt vermutet werden.
Bilanz der neuen Regionen ernüchternd
Die Missachtung der Identitäten samt Regionalsprachen gilt als Ursache allen Übels. Während Elsass und Lothringen aufgrund ihrer Historie, ihrer vielseitigen Verbindungen und gemeinsamen Grenze zu Deutschland noch zusammenpassen würden, fehlt zu Champagne-Ardenne jegliches Zusammengehörigkeitsgefühl. Der Raum um Reims ist mit seinen Menschen und Wirtschaftsströmen vielmehr Richtung Paris ausgerichtet, während die Mobilitätsströme in den Ballungsräumen Metz, Nancy und Straßburg eher untereinander und nach Luxemburg, Deutschland und in die Schweiz stattfinden, also vertikal statt horizontal. Das Gebiet zwischen Metz, Reims und Troyes nennen die Elsässer sogar „Flur des Todes“, weil dünn besiedelt und strukturschwach. Wer will schon in Cheppes-la-Prairie wohnen? Selbst die Autobahn und Eisenbahn machen einen großen Bogen um diesen Raum. Wie soll das zusammenwachsen, fragt sich nicht nur Richard Stock.
Was für Grand Est gilt, lässt sich übrigens auch an der Region Hauts-de-France feststellen. Die einstige Picardie, in der der rechtsradikale Rassemblement National stark ist, wurde mit der politisch eher linksorientierten Region Nord zusammengelegt. „Dass das nicht harmoniert und nur aus politischen Beweggründen zusammengeschustert wurde, kann sich jeder vorstellen, aber man wusste 2016 nicht so richtig, wohin mit der Picardie, was sich bei Champagne-Ardenne eben auch vermuten lässt.“
Dass keine echte Regionalpolitik möglich ist, zeigt auch der Blick in das Regionalparlament. Die Wahllisten richten sich nach wie vor an den Départements aus, die eigentlich mit der Regionalisierung 2016 abgeschafft werden sollten, aber aus historischen Gründen trotzdem geblieben sind. Es mangele an Solidarität unter den im Regionalrat vertretenen Abgeordneten und es gebe durchaus gute Gründe, wieso die einstigen Präsidenten des Regionalrats Grand Est, Philippe Richert und Jean Rottner, nicht bis zum Ende der Legislatur durchgehalten hätten. Vielleicht hat Franck Leroy aus Epinal ja mehr Glück. Dass das ferne Paris das Elsass in seinen Zuständigkeiten ohnehin nicht sonderlich ernst nimmt, macht zum Beispiel die Zusammenlegung der beiden Départements 67 Bas Rhin und 68 Haut Rhin zu Alsace Collectivité européenne deutlich, denn die Präfektur in Colmar für Haut Rhin existiert zusätzlich zu der in Straßburg weiter, obwohl sie eigentlich hätte abgeschafft werden müssen.
Dass mit wenig Geld keine großen Sprünge zu erwarten sind, zeigt der Blick auf die Zahlen: Der Haushalt für Grand Est 2023 macht 3,9 Milliarden Euro aus, bei rund 5,6 Millionen Einwohnern, von denen ein Drittel unter 25 Jahren ist. Zum Vergleich: Das Saarland mit knapp einer Million Einwohnern hat einen Haushalt von 5,4 Milliarden Euro. „Diese geringen Haushaltsmittel machen die Regionen und vor allem die Kommunen zu echten Bittstellern beim Staat“, betont Stock. Das von Paris verordnete Planungsinstrument SRADDET mit rund 30 Regeln für Bereiche wie Infrastruktur, Schulgebäude oder Tourismus käme einer Entmündigung der Gemeinden gleich. Früher waren die Regeln noch hilfreiche Orientierungslinien, heute eher ein Diktat.
Erneute Neuordnung möglich
Was Stock aber besonders fuchst: Wieso haben die Regionen und Kommunen 2016 nicht aufbegehrt gegen diese unsägliche Regionalisierung, die keine ist, inklusive Kürzung der Gemeindeeinnahmen wie die Abschaffung der Wohnsteuer für Erstwohnsitze? Vielleicht liege es daran, dass viele Franzosen noch nicht so richtig verstanden haben, dass ihre Gemeinden und Regionen zunehmend mehr am finanziellen Tropf von Paris hängen. Paradox: Die Franzosen mögen ihre regionale Identität, wollen die Nähe zu Entscheidungsträgern vor Ort, lehnen aber die Regionalverwaltung ab.
Doch wie geht es weiter, und was bedeutet das für die Frankreichstrategie, schließlich ist Grand Est der französische Ansprechpartner für das Saarland schlechthin? „Die Frankreichstrategie des Saarlandes wird bei uns sehr positiv gesehen“, sagt Stock. „Und warum sollte man nicht eine gemeinsame Strategie mit Lothringen entwickeln, obwohl die Region Lothringen als solche verwaltungsmäßig nicht mehr existiert?“ Der Zeitpunkt sei günstig, denn die neuen Interreg-Mittel der EU für die kommenden Perioden würden jetzt festgezurrt. Viele neue grenzüberschreitende Projekte von Kommunen und Vereinen könnten gemeinsam auf den Weg gebracht und umgesetzt werden wie bereits in der Vergangenheit.
Auch wenn Grand Est das ungeliebte Kind aus der Retorte sei, einen Austritt des Elsass aus dieser Megaregion sehe er derzeit allerdings noch nicht. „Aber eine Neuordnung der Regionen mit mehr Bürgernähe ist durchaus vorstellbar, wie Macron bereits hat durchblicken lassen. Doch zunächst muss er die wohl wichtigste Reform seiner politischen Karriere durchbringen: die Rentenreform. Klappt das, dann wäre der Weg frei für einen weiteren Regionalisierungsversuch“, so Stock. Denn wiedergewählt werden kann Macron 2027 nicht mehr. Der Weg wäre frei, aber ein Blick über den eigenen Tellerrand, sprich über die Grenzen, wohl sehr hilfreich.