Das Dance On Ensemble vereint Profis ab 40 Jahren und profitiert seit 2015 bei seinen Produktionen vom künstlerischen Potenzial und der langjährigen Erfahrung der Ensemblemitglieder.
Wer eine bürgerliche Profession ergreift, ob Handwerker oder Akademikerin, übt sie in der Regel um die 40 Jahre aus, ehe die Rente naht. Mit 35 ist man da noch ein knackiger Aufsteiger. Im Bereich des Bühnentanzes hingegen gilt man, von Ausnahmen abgesehen, spätestens nach 35 schon als „alter Knacker“, zumal alljährlich jugendfrische und tatendurstige Absolventen der staatlichen Ausbildungsstätten hoffnungsvoll auf den Markt drängen. Die Ausbildung in diesen Schulen beginnt mit zehn und umfasst mindestens acht strapaziöse Jahre, ehe der Körper die nötige Ausdrucksfähigkeit und Flexibilität erreicht hat.Im zeitgenössischen Tanz beginnt das Studium später und ist erheblich kürzer. Das Paradoxon in beiden Stilrichtungen: Wenn der Tänzer oder die Tänzerin maximale Erfahrung und optimale darstellerische Reife erlangt hat, setzt bereits schleichend der physische Abbau ein. Er kann sich über einen längeren Zeitraum hinziehen, stellt indes manche Choreografen vor Schwierigkeiten, können sie doch von den Betreffenden nicht mehr die volle Leistung abrufen. Entlassung oder freiwilliger Rückzug aus dem Beruf sind die Folge, der Transition genannte, emotional häufig schmerzliche Übergang in einen Zweitberuf schließt sich an.
Wie gut das gelingt, ist die eine Frage. Die andere, welch künstlerisches Potenzial hier vor der Zeit verlorengeht. Viele haben das erkannt und nach Abhilfe gesucht. So hat Jiří Kylián, damals Direktor des Nederlands Dans Theater, neben der Hauptkompanie und einem Jugendensemble 1991 mit dem NDT 3 eine kleine, aber feine Gruppe aus Tänzern jenseits der 40 gegründet, mit einem eigenen Repertoire versehen und ungeahnt erfolgreich auf Welttour geschickt, bis ein Weiterbetrieb 2006 an der Finanzierung scheiterte. Bei Pina Bausch etwa sind die Tänzer mit den Stücken gealtert – und in ihrer Ausstrahlung dadurch nur noch besser geworden.
Nachfrage aus In- und Ausland ist sehr groß
Wie man dem Wegwerf-Prinzip im Tanz entgegenwirken kann, darüber haben sich auch Madeline Ritter, Juristin und gestandene Netzwerkerin, sowie Riccarda Herre, einst herausragende Tänzerin im Leipziger Tanztheater der Irina Pauls, Gedanken gemacht. Das Resultat war ein Wagnis: die Gründung des Ensembles Dance On. Im November 2015 nahm es mit sechs internationalen Tänzern jenseits der 40 und stilistisch unterschiedlich geprägt – von Ballett bis Modern – in den Berliner Uferstudios seine Proben auf, um schon im Januar 2016 beim Holland Dance Festival mit „7 Dialogues“ zu debütieren. Von den sechs für diese erste Produktion eingeladenen Choreografen erarbeitete jeder ein individuelles Porträtsolo für ein Ensemblemitglied; der italienische Komponist Matteo Fargion besorgte die Regie. Diesem begeistert aufgenommenen Auftakt folgten elf weitere Produktionen mit 15 renommierten Choreografen und Regisseuren, darunter Werke von Deborah Hay, William Forsythe, Rabih Mroué. Möglich gemacht wurde dies durch die Förderung seitens der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM).
Künstlerischer Leiter dieser „1. Edition“ genannten Anfangsphase, die sich zu über 100 Vorstellungen in 13 Ländern ausweitete, war Christopher Roman, zuvor Tänzer und Vize-Direktor der Forsythe Company Frankfurt. Seit 2019 führt Ty Boomershine, Tänzer der ersten Stunde, das Ensemble Dance On, indes mit selber Zielstellung: das künstlerische Potenzial von Tänzerinnen und Tänzern über 40 sichtbar zu machen und durch Zusammenarbeit mit namhaften Choreografen ihre Kreativität anzuzapfen. Gespannt auf Neues sind sie jedenfalls alle. Hatten sich bereits für die Erstausgabe mehr als 230 Tänzer beworben, so lässt bis heute die Nachfrage aus dem In- und Ausland nicht nach. Wöchentlich, sagt Ty Boomershine, melden sich Bewerber, sogar Jüngere: 40+ und bis zuletzt aktiv im Beruf, das bleiben die Bedingungen – allerdings die einzigen. Beeindruckend lesen sich die Biografien der heute 14 Mitglieder. Sie bilden den Pool, aus dem sich die Besetzungen der Stücke speisen. Festangestellt sind sie im Gegensatz zur „1. Edition“ nicht mehr, die verschiedenen Lebensumstände erfordern ein Mehr an Flexibilität.
Älteste Tänzerin mit fast 77 ist Christine Kono aus den USA. Von der damals schon reiferen Galina Ulanowa fühlte sie sich inspiriert, tanzte Balanchine und Graham, ehe sie nach Europa kam. „Krisen machen kreativ“ lautet ihr Motto. Gut 25 Jahre war Miki Orihara erste Solistin bei Martha Graham, tanzte am Broadway, gewann einen Bessie-Award. Auch Omagbitse Omagbeni kann auf einen Bessie-Award verweisen; mit dem Goldenen Schwan, Hollands höchstem Tanzpreis, wurde der Südafrikaner Tim Persent ausgezeichnet. In Dance On habe er eine Kompanie für seine Altersklasse gefunden, sagt er. Der Spanier Javier Arozena stieg von der Architektur mit 23 auf Tanz um; Alba Barral Fernández verließ ihre Medizinausbildung zugunsten des Tanzes und hält das für ihre beste Entscheidung. Alle, auch der Israeli Ziv Frenkel, der mit 26 in der Kibbutz Contemporary Dance Company begann, dann bei Susanne Linke und Johann Kresnik getanzt hat, sind sie stolz auf ihre teils jahrzehntelange Erfahrung als Tänzer und Mensch, alle wagen sie Neues und bringen sich dabei mit ihrer reichen Persönlichkeit ein. Manche haben Familie und wollen trotzdem Teil einer kreativen Gemeinschaft sein.
Das Projekt ist zunächst bis 2028 gesichert
Vielen geht es wie Ty Boomershine, der, beeindruckt von Martha Graham, dann von Merce Cunningham, Bill T. Jones und Trisha Brown, nicht glaubte, dass er so lange tanzen würde – und noch immer keinerlei physische Einschränkungen spürt. Als Leiter will er einen gegenständlichen und auch geistigen Raum schaffen, der dem Ensemble die richtigen tänzerischen Möglichkeiten bietet: Nicht das Alter zählt, sondern nur, was jeder einbringt. Adressaten sind die Zuschauer, die oft verblüfft sind, welche Rundum-Leistung sie auf der Bühne erleben. Jüngstes Beispiel hierfür ist „Mellowing“. Zu minimalen Klangschattierungen lässt der griechische Choreograf Christos Papadopoulos elf Tänzer winzige Tretbewegungen am Platz ausführen, dann zunächst kaum erkennbar den Ort wechseln. Wege verschieben und verflechten sich, Körper wenden, kreisen, bis nach einer knappen Stunde eine Lichtwelle alle Bewegung auslöscht.
Positionsbedingt etwas nüchterner, jedoch nicht weniger engagiert, streitet Madeline Ritter, Künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin der tragenden gemeinnützigen Organisation Büro Ritter (ehemals Diehl + Ritter), für den Fortbestand von Dance On. Bis 2028 ist das Ensemble über BKM-Mittel gesichert, hinzu kommen Europaförderung und intensive Zusammenarbeit mit Koproduzenten. Von den 23 bisherigen Produktionen sind neun im Repertoire und touren international. Gerade läuft eine Vorstellungsserie in Frankreich aus, gefolgt von Aufführungen in Hamburg sowie bei Festivals in Leuven und Utrecht. Und als Neueinstudierung steht „Kiss The One We Are“ an. Darin fragt der US-amerikanische Choreograf Daniel Linehan, mit 41 gerade im passenden Alter, welche Rolle Tanz für seine Interpreten spielt und weshalb sie ihm so viel Zeit ihres Lebens widmen. Je vier Aktive seiner eigenen Kompanie und von Dance On sind in dieser Mehrfach-Koproduktion besetzt.
Durchaus nicht nur am Rand engagiert sich Dance On auch dafür, zeitgenössischen Tanz an Senioren heranzutragen, die bislang keinen Kontakt damit hatten, doch Begeisterung mitbringen. So ist Dance On Partizipation entstanden und hieraus wieder das Dance On Lab: für jene, die nun regelmäßig trainieren und auch Choreografien erarbeiten möchten. Tanz kennt eben kein Alter!