Partygänger, Obdachlose, Trump-Verehrer: Wer die USA mit dem Fahrrad erkundet, sieht deutlich mehr vom Land. Mancherorts steht der Fahrradtourismus noch am Anfang. Doch vor allem die Metropolen rüsten auf.
Den „Riverwalk“ in der amerikanischen Metropole San Antonio kann man sich ein bisschen wie den Ballermann auf Mallorca vorstellen, nur teurer. Während der San Antonio River durch die Innenstadt mäandert, drängen sich Restaurants, Kneipen und Souvenirshops entlang der Promenade. Überall wummert Musik, der Duft von Tacos und Grill-Spießen liegt in der Luft, Partyboote schippern über den Fluss. Und hier soll man Fahrrad fahren?
Die Reservierungsbestätigung des Hotels legt es nahe. Dort sind zwei junge Menschen zu sehen, die vergnügt in die Pedale der hoteleigenen Leihräder treten. Fragt man aber nach genau diesen, muss die Frau an der Rezeption erst mal Luft holen. Biking? Hier? „Das hat schon ewig niemand mehr gemacht“, antwortet die Hotel-Mitarbeiterin. „Ich glaube, die Fahrräder stehen irgendwo im Keller.“
Auf zwei Rädern durch Amerika? Kann das gut gehen? Oder ist das in einem Land, in dem spritfressende Pick-up-Trucks die Verkaufsstatistik anführen, vielleicht keine so gute Idee? Zeit, es herauszufinden! Als das Hotel am nächsten Tag die Leih-Velos aus dem Keller holt, macht sich erst mal Ernüchterung breit. Die Klingel fehlt, der Front-Reflektor baumelt am Lenker. Auch einen Gepäckträger gibt’s nicht. Immerhin gehören Helm und Schloss zum Repertoire. Und die Farbe ist trendy: ein knalliges Orange. So wird man vom Auto aus hoffentlich besser gesehen.
Aus Tristesse wird Wohlstand
Wie sich zeigt, ist Schieben auf dem Riverwalk die beste Fortbewegungsmethode. Zu groß der Andrang, zu groß die Gefahr, jemanden versehentlich in den Fluss zu befördern. Das richtige Fahrrad-Paradies soll ohnehin erst einige Kilometer flussabwärts beginnen. Die Bike-Broschüre der Stadt weist den Weg, denn offizielle Radwege gibt es in der Innenstadt nur wenige. Merkwürdig klein wirkt der Drahtesel, als er an der Ampel zum Stehen kommt, eingekeilt zwischen Fahrzeugen, die wie fahrende Hochhäuser wirken. Unvermittelt kurbelt ein Mann die Scheibe runter: „Schönes Orange“, ruft er über die Motorengeräusche hinweg. „Da kriege ich glatt Lust, auch mal wieder zu strampeln.“
Kurz danach beginnt tatsächlich ein Radweg, separiert vom Verkehr, mit Fahrspuren in beide Richtungen. Zugleich wird es rauer. Obdachlose schlafen am Straßenrand, eine Frau liegt mitten auf dem Radweg. Ansonsten wirkt die Gegend wie ausgestorben. Zäune, Lagerhallen, Vorgärten, in denen angekettete Kampfhunde dösen. Keine 500 Meter weiter, hinter dem Sozialkaufhaus der Heilsarmee, ändert sich die Kulisse erneut. Plötzlich sind Food-Trucks zu sehen, Tennisplätze, Cafés, Mehrfamilienhäuser mit insektenfreundlichen Vorgärten („Mähen verboten“). Und natürlich: eine Leihstation für Fahrräder. Aus Tristesse wird Wohlstand, Arm und Reich eine Sache von Straßenzügen, wie so oft in den USA.
Dahinter wieder der Fluss, diesmal naturbelassen, gesäumt von Bäumen, Gräsern und der einen oder anderen Schnellstraße. Tatsächlich ist viel los auf dem Radweg, wobei die meisten ihre Fahrräder auf einem nahe gelegenen Parkplatz vom Auto entladen – die Anreise durch den Großstadt-Dschungel ist ihnen wohl zu heikel.
Abseits der Partyboote und Bürogebäude macht das Strampeln wirklich Spaß. Je weiter sich der Fluss hinzieht, desto natürlicher wird die Umgebung. Grillen zirpen, Wasser plätschert, am Ufer werfen Angler ihre Köder aus. Biking in den USA geht also durchaus, vorausgesetzt, man betrachtet es vor allem als Sport und Freizeitaktivität, weniger als alltägliches Verkehrsmittel.
Fortschritte gibt es aber auch in den Metropolen. Houston feiert aktuell das zehnjährige Bestehen seines Fahrrad-Verleihsystems. 1,6 Millionen Mal seien die Drahtesel seither ausgeliehen worden, heißt es in der Pressemitteilung der Stadt. Die Bilanz: 9,6 Millionen gefahrene Meilen und 381 Millionen verbrannte Kalorien. Dass offizielle Stellen in solche Systeme investieren, liegt auch am steigenden Druck der bunt gemischten Radfahr-Szene. So tunen Velo-Enthusiasten in Houston ihre Gefährte mit bunt blinkenden Lichtern, um sie nachts auszufahren. Die „Night Light Rides“ sind halb Party, halb politisches Statement.
Spannende Projekte in Los Angeles
„Es ist sehr wichtig, dass wir sichtbarer werden“, sagt Trudi Smith, eine 58-jährige Radfahrerin, die früher regelmäßig bei „Critical Mass“-Ausfahrten dabei gewesen ist. Heute kümmert sie sich in Houston um den Ausbau von Radwegen in mehreren Stadtparks. Ihr wichtigster Tipp: „Im Zweifel lieber auf dem Bürgersteig fahren, als die eigene Gesundheit riskieren.“ Das würden die Cops tolerieren – eine Aussage, die ein Fahrrad-Polizist später bestätigt. „Zumindest solange Sie keine Fußgänger umnieten“, fügt er mit einem Augenzwinkern hinzu.
Spannende Projekte entwickeln sich auch in anderen Städten. In Los Angeles wird der L.A. River nach und nach renaturiert. Der Betonkanal dient als
Regenüberlauf-Becken, soll aber vermehrt Radlern und Ausflüglern zugänglich gemacht werden. In Pennsylvania kämpft die Initiative „Black Girls Do Bike“ um das Recht von Minderheiten auf gesunde Fortbewegung. Und auf Landesebene läuft ein noch kühneres Vorhaben: Mithilfe von Spendengeldern wollen Aktivisten den „Great American Rail Trail“ verwirklichen, einen Fern-Radweg, der sich im Norden durch die USA zieht. Noch handelt es sich zu großen Teilen um eine Vision, doch 193 von 2.700 Kilometern sind schon umgesetzt. Immerhin.
Die Lobbyorganisation „League of American Bicyclists“ treibt Städte und Bundesstaaten voran, indem sie sie einem Ranking unterzieht. Ganz vorne liegen Massachusetts, Oregon und Washington; das Schlusslicht bilden Mississippi, Nebraska und Wyoming. Die Aussagekraft dieser Rankings ist aber mit Vorsicht zu genießen, denn innerhalb der einzelnen Regionen gibt es starke Unterschiede: So schneiden ländliche Gegenden in der Regel deutlich schlechter ab als Städte, weil es dort kaum Radwege gibt.
Aber hat eine Ausfahrt in der Provinz nicht trotzdem ihren Charme? Ortsbesuch in Fredericksburg, einer Kleinstadt tief in Texas, die vor über 150 Jahren von deutschen Einwanderern gegründet wurde. Das feucht-warme Landleben wird von Landwirtschaft und Tourismus bestimmt. Überall buhlen Weinbau-Betriebe um kaufwillige Kundschaft, während Lastwagen Rinder zum Viehmarkt karren. Am Highway steht ein verrosteter Kleinbus, der für Trump wirbt. Im Regal eines Coffeeshops liegen Lichterketten, die aus benutzten Shotgun-Patronen bestehen. Ist das wirklich eine gute Gegend zum Aufsatteln?
„Hier kriegt man den Kopf frei“
Josh Allen muss nicht lange überlegen. „Unsere Landstraßen eignen sich perfekt zum Radeln, denn hier ist kaum etwas los“, sagt der 41-Jährige, der mit seinem langen Bart und der Sonnenbrille perfekt in ein New Yorker Hipster-Café passen würde. „Früher war ich Banker“, sagt Allen, „aber das war nichts für mich. Ich brauche etwas Handfestes.“ Seit 2014 betreibt er in seiner Heimatstadt nun einen Bike-Shop, nebenan hat er für Zweirad-Enthusiasten ein Ferienhaus gebaut. So hat es die Kundschaft nie weit.
Dann schwingt er sich auch schon auf sein Rennrad, ein paar Hundert Meter durchs Wohngebiet, schließlich ins offene Land. Viel los ist hier wirklich nicht. Ein paar Rinder, endloses, karges Weideland, in der Ferne eine Farm. „Hier kriegt man den Kopf frei“, jauchzt Allen, weshalb es immer mehr Stadtmenschen in das kleine Nest verschlage. Die Verkehrsregeln sieht der Biker nicht ganz so eng, an Stoppschildern setzt er seine Fahrt langsam, aber zielstrebig fort. Keine Angst vor Polizisten? „Nein, nein“, sagt Allen und lacht. „Die lassen alle ihre Fahrräder bei mir reparieren. Beim nächsten Einsatz wollen sie doch keinen Platten haben.“