Ob in Paris, Oxford oder Hamburg: Mit dem Konzept der 15-Minuten-Stadt sollen Städte menschen- und umweltfreundlicher gestaltet werden. Kritiker hingegen befürchten eine Blaupause für staatliche Überwachung.
Kaum noch Verkehrslärm vor dem geöffneten Fenster. Supermarkt, Schule und Sportstudio sind innerhalb weniger Minuten erreichbar. Ebenso die Bibliothek, Arbeitsstelle und das nächstgelegene Krankenhaus. Was wie eine Utopie klingt, ist ein Stadtplanungsmodell, nach dem Erledigungen des täglichen Bedarfs zu Fuß oder mit dem Fahrrad innerhalb von 15 Minuten erreichbar sein sollen. Die sogenannte 15-Minuten-Stadt ist die Vision dezentraler, umweltfreundlicherer Städte, die mehr auf den Menschen als auf Autos ausgerichtet sind.
Weniger Luftverschmutzung
Das Stadtplanungsmodell wurde vom französisch-kolumbianischen Wissenschaftler und Stadtplaner Carlos Moreno entwickelt. 2021 erhielt der 63-Jährige, der an der Sorbonne-Universität in Paris lehrt, für sein Konzept den Obel Award-Architekturpreis. Morenos übergeordnetes Ziel ist es, zur Verbesserung der Lebensqualität von Menschen in dicht besiedelten Ballungsgebieten beizutragen. Die Abhängigkeit von Fahrzeugen soll verringert werden, was dazu beitragen könnte, den Verbrauch fossiler Brennstoffe, die CO2-Emissionen und die Luftverschmutzung zu senken und damit die Gesundheit von Mensch und Umwelt zu verbessern. Auch soll es Pendelzeiten verkürzen und eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ermöglichen.
Maßnahmen, die einzelne Städte bereits umsetzen und die weiter ausgebaut werden sollten, sind Verbesserung und Ausbau der Wegenetze für den Rad- und den öffentlichen Nahverkehr. Das hat positive Auswirkungen auf die Umwelt. Auch ein Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs kann dazu führen, dass weniger Autos notwendig wären. Eine veränderte, nutzungsdurchmischte und kompakte Stadtstruktur soll dabei kurze Wege ermöglichen. Demnach sollen auch Arbeiten, Wohnen und Freizeitgestaltung enger miteinander verknüpft werden. Dazu spielt das Weiterbestehen von mobiler Arbeit wie etwa Homeoffice und dezentralisierte Satellitenbüros eine wichtige Rolle. Wenn zukünftig Neubauten entstehen, müssten diese ebenfalls verschiedene Nutzungsarten möglich machen: In ihnen wären dann nicht nur Büros untergebracht, sondern auch Wohnungen und sogar Kindergärten.
2016 stellte der Stadtplaner erstmals seine Vision vor. Städte und Kommunen wie Buenos Aires, Chengdu und Melbourne greifen Morenos Idee auf. Besonders prominent tat dies im Jahr 2020 die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo, die die Idee im Rahmen ihrer Kampagne zur Wiederwahl in der französischen Hauptstadt propagierte. Die Politikerin möchte in jedem Arrondissement der französischen Hauptstadt autarke Gemeinden fördern, in denen Lebensmittelgeschäfte, Parks, Cafés, Sportanlagen, Gesundheitszentren, Schulen und sogar Arbeitsplätze nur einen Spaziergang oder eine Fahrradtour entfernt sind.
Auch die Hansestadt Hamburg soll nach dem Willen der Grünen-Parteiführung zu einer „15-Minuten-Stadt“ werden. Ein Leitantrag des Landesvorstands sieht vor, „dass alles, was man zum Leben benötigt und was das Leben schön macht, überall in der Stadt innerhalb von 15 Minuten erreicht werden kann“, so der stellvertretende Landesvorsitzende Leon Alam. Ein solches Angebot – das es im innerstädtischen Bereich ja längst gebe – auch am Stadtrand zu schaffen, sei ein „ambitioniertes Ziel“, sagte Alam. Den Grünen gehe es darum, „es künftig auch in Stadtrand-Lagen zu ermöglichen, dass Menschen nicht auf das Auto angewiesen sind“.
Auch im britischen Oxford will man solche „15-minute-neighbourhoods“ schaffen: mit Einkaufsmöglichkeiten, Gesundheitsversorgung und Parks in Gehreichweite für alle. Der Stadtrat Oxfords hatte das 15-Minuten-Stadtkonzept in seinem im September 2022 veröffentlichten Lokalplan 2040 gebilligt. Die Nachricht über den Plan zur Einführung des Stadtmodells löste jedoch heftige Kontroversen aus.
Kritik an Kameraüberwachung
Denn zeitgleich wollte man in der britischen Stadt mit sogenannten „traffic filters“ gegen den überbordenden Autoverkehr vorgehen: An sechs verschiedenen Stellen in Oxford sollte die Durchfahrt mit Autos probeweise eingeschränkt werden. Kameras sollen die Nummernschilder scannen. Anwohner, Taxis oder Pflegekräfte dürfen durch, aber allen anderen ist zumindest zu bestimmten Tageszeiten die Durchfahrt verboten. Nichtsdestotrotz kann man mit dem Auto von einem Punkt zum anderen mit fahren – man muss nur eventuell eine andere Strecke wählen.
Die zeitgleichen Beschlüsse von Kameraüberwachung und der Umsetzung des Stadtkonzeptes wecken bei einigen Kritikern in Großbritannien Ängste und erinnern einige von ihnen sogar an die Restriktionen und Lockdowns während der Covid-19-Pandemie. So befürchten die Kritiker, dass die Bewohner mit der 15-Minuten-Stadt auf ihre unmittelbare Nachbarschaft beschränkt wären und ihre Bewegungen zu streng überwacht werden würden. Eine Kundgebung, an der im vergangenen Monat Tausende Bürgerinnen und Bürger Oxfords teilnahmen, behauptete, gegen Pläne zu protestieren, die Stadt in eine „geschlossene Stadt im stalinistischen Stil“ umzugestalten, und gegen eine eventuelle Versklavung lokaler Bewohner. Der Nachrichten-Kommentator Mark Dolan verurteilte den Plan als „dystopisch“ und warnte, dass die Stadt plane, „überall installierte Nummernschilderkennungskameras“ einzusetzen, um „eine Überwachungskultur zu schaffen, die Pjöngjang neidisch machen würde“. Das Thema gelangte sogar bis ins Londoner Unterhaus, wo Nick Fletcher, der Abgeordneter der Konservativen Partei, 15-Minuten-Städte als „internationales sozialistisches Konzept“ bezeichnete, dessen ultimativer Zweck darin bestand, „persönliche Freiheiten zu nehmen“.
Zumindest theoretisch könnten umgesetzte 15-Minuten-Städte mit ihrer Fokussierung auf die Erreichbarkeit von Einrichtungen und Dienstleistungen innerhalb von einer Viertelstunde eine Blaupause für die Überwachung der Menschen werden. Durch die Verwendung von Überwachungskameras und GPS-Tracking ist die Kontrolle der Bewegungen und Aktivitäten der Menschen möglich. Zumindest rein technisch. In China etwa wurde das Konzept der „gläsernen Bürger“ implementiert, bei dem die Regierung mithilfe von Gesichtserkennung und GPS-Tracking die Bewegungen und Aktivitäten der Bürgerinnen und Bürger verfolgt und analysiert.
In Oxford haben Organisatoren der Protest-Gruppe „Not Our Future“ angekündigt, den Kampf in die Städte Bath, Bristol, Canterbury und Edinburgh zu verlegen. Sie wollen ebenfalls die Pläne nach dem Vorbild des 15-Minuten-Stadtkonzepts verabschieden. Eines ist sicher: Das neue Stadtkonzept wird in Zukunft noch für viel Diskussionsstoff sorgen.