Ein „Superstreiktag“ hat den Verkehr in weiten Teilen Deutschlands lahmgelegt. Die Rhetorik beider Seiten im Vorfeld erinnerte stark an Klassenkampf früherer Zeiten. Die Tarifrunde hat es aber auch ohne Parolen in sich.
Es sind eigentlich mittlerweile vertraute Bilder: leere Hauptbahnhöfe, Züge, die nicht fahren, eine Logistikkette, die nicht mehr funktioniert, geschlossene Geschäfte oder Verwaltungen. Und für Deutschland ganz schlimm: Flughäfen, an denen nicht mehr der verdiente Urlaub angetreten werden kann, weil Flüge gestrichen wurden. Vor gut drei Jahren wurde das noch akzeptiert, sogar als wochenlanger Dauerzustand. Die von der Bundesregierung verordneten Corona-Maßnahmen zwangen zum Totalstillstand eines Großteils der Wirtschaft, und die Menschen standen auf dem Balkon und klatschten für die, die noch zur Arbeit fahren durften oder eben mussten.
Von wegen Applaus, wenn plötzlich Gewerkschaften zu so einem Stillstand, zumindest in Teilen und zumindest für einen Tag aufrufen. Der letzte Montag im März dieses Jahres war so ein Tag. Deutscher Beamtenbund, Verdi und die Eisenbahngewerkschaft hatten sich zu einer konzertierten Aktion verabredet. Der Bahn-, Flug- und auch Schiffsverkehr wurde für 24 Stunden lahmgelegt, und trotzdem war und ist das Geschrei entsprechend groß von Politik, betroffenen Unternehmen und vor allem Arbeitgeberverbänden. Das Besondere an diesem bundesweiten Verkehrs-Warnstreik und seinen diversen Vorläufern in der Verwaltung, Verkehrsunternehmen und sonstigen Dienstleistern im Öffentlichen Dienst: Er nicht aus heiterem Himmel, sondern mit ordnungsgemäßer Ankündigung. Wie es sich in Deutschland nach allen Regeln für Tarifauseinandersetzungen gehört. Trotzdem machte in Berlin schon das Wort die Runde, Deutschland könnten womöglich „französische Verhältnisse“ bevorstehen.
In Frankreich herrscht seit Wochen wegen der umstrittenen Rentenreform Ausnahmezustand. Bei gewalttätigen Ausschreitungen sind Hunderte von Polizisten verletzt, und Hunderte von Randalieren festgenommen worden.
Verantwortung und hohe Erwartungen
Ein Vergleich bei einem ordentlich angekündigten Großstreiktag klingt da schon etwas schräg. Erst recht, da so ziemlich alles im Vorfeld geregelt wurde, bis hin zur Gültigkeit für Fahrkarten, die mangels Zügen nicht eingelöst werden konnten. Auf den großen Verkehrsstreik konnten sich Bahnfahrer, Fluggäste und auch die Binnenschiffer glatte 72 Stunden vorher einstellen. Trotzdem schallte es sofort von der Bahn AG und den Flughafenbetreibern, dies seien „völlig überzogene Maßnahmen“. Und die Politik reagiert ebenfalls sofort. Ad hoc hoben mehre Bundesländer umgehend das Sonntagsfahrverbot für Lkw auf, damit die Versorgungssicherheit der Bevölkerung in den Supermärkten an diesem Streik-Montag Ende März sichergestellt bleiben sollte. Eine gut gemeinte Maßnahme, vielleicht auch noch geprägt aus Erfahrungen der Corona-Lockdown-Zeit. Trotzdem waren die Autobahnen am Sonntag nicht überfüllt.
Logistiker und Spediteure meinten zur Erklärung, die Aufhebung des Fahrverbots für Lkw am Sonntag mache keinen Sinn, da am Sonntag die Verteilzentren für Lebensmittel und den übrigen Dingen des täglichen Lebens tagsüber gar nicht besetzt seien, und auch die Empfänger von Tiefkühlpizza und Toilettenpapier geschlossen hätten, so eine Pressemitteilung des Bundesverbandes Logistik (BvL).
Die Aufhebung des Sonntagsfahrverbots hat niemandem geschadet, genützt aber offenbar auch nicht viel. Am Ende war sie womöglich auch einer rhetorischen Eskalation geschuldet, mit der die Protagonisten sich gegenseitig hochschaukelten, bis der Montags-Streik in die Nähe einer nationalen Notlage erscheinen musste.
Wobei auch die Teilgewerkschaften Verdi, EVG und der Beamtenbund ihren Teil durch scharfe Kampfrhetorik beitrugen. Da wurde und wird wieder die alte Klassenkampf-Melodie angestimmt. Alle Räder stehen still. Doch die aktuellen Tarifverhandlungen betreffen nicht mal ein Fünftel der insgesamt gut 17 Millionen tarifgebundenen, sozialversicherungspflichtigen Anstellungsverhältnisse in Deutschland, so die Zahlen vom Statistischen Bundesamt aus dem letzten Jahr. Trotzdem wird der Eindruck erweckt, alle Arbeitnehmer seien vom aktuellen Arbeitskampf betroffen. Aber 18 Millionen Arbeitnehmer in Deutschland sind zwar sozialversicherungspflichtig beschäftigt, aber außerhalb der Tarifbindung.
Das wissen die Gewerkschafter auch, und darum geht es ihnen – neben den konkreten Forderungen – bei diesem Arbeitskampf eben auch. Ein erfolgreicher Streik ist immer auch Motivation für Arbeitnehmer, der Gewerkschaft beizutreten. Und neue Mitglieder braucht der Deutsche Gewerkschaftsbund auch dringend. Seit Jahren sinken die Mitgliederzahlen rapide. Immer mehr tarifgebundene Beschäftigungsverhältnisse sind in den letzten 30 Jahren weggebrochen, die Mitgliederzahl im DGB hat sich in den letzten 30 Jahren halbiert. Von fast zwölf Millionen auf derzeit sechs Millionen gewerkschaftlich, organisierte Arbeitnehmer. Darum sind Verdi, EVG aber auch der Beamtenbund derzeit mehr als bemüht, den Arbeitskampf öffentlichkeitswirksam und dann mit einem guten Abschluss hinzubekommen.
Für Gewerkschaften sind Streiks auch Mitgliederwerbung
Jahrelang galten die Arbeitnehmervertreter, gerade im öffentlichen Dienst als „handzahm“, haben viele Kröten geschluckt. Die Haushalte standen im Zeichen der Einhaltung der Schuldenbremsen. Doch spätestens mit einer offiziellen Inflation von um die zehn Prozent scheinen diese Zeiten vorbei. Wobei die Teuerungsrate bei Lebensmitteln und Energie in den letzten zwölf Monaten weit höher lag. Gute Gründe für eine deutliche Forderung: 10,5 Prozent, mindestens aber 500 Euro im Monat.
Vor allem die Länder stöhnen. Das sei so nicht zu leisten, die Kommunen ächzen schon jetzt unter den erheblichen finanziellen Mehrbelastungen, zum Beispiel durch die massiv gestiegenen Energiekosten. Doch umgekehrt würde eine Lohnerhöhung von zehn Prozent im Öffentlichen Dienst auch bedeuten, dass die Einnahmen durch Steuern um den gleichen Faktor steigen würden, wenn nicht noch ein bisschen mehr, dank der Steuerprogression.
Hinter diesen Tarifauseinandersetzungen steht eine Reihe weitreichender Aspekte. So gut begründbar die aktuellen Gewerkschaftsforderungen auch sind: Experten warnen vor der Gefahr einer Spirale aus Löhnen und Preisen als Inflationstreiber.
Und das in einer nach wie vor unsicheren Zeit. Das ist auch den Experten der Tarifverhandler bewusst. Für die wird es nach den kämpferischen Parolen nicht unbedingt einfacher. Aber das gehört zum Geschäft.