Diskussionen um Schule enden nie. Nach der Entscheidung ist vor der Entscheidung. Das gilt für die G9-Umsetzung mit allen Folgen oder die Digitalisierung. Dazu werden andere Herausforderungen immer drängender: Weniger Lehrerkräfte – mehr Schülerinnen und Schüler.
Die Debatte im Parlament war leidenschaftlich, die Abstimmung am Ende klar. Dass G9 nun auch im Saarland zurückkehren würde, war seit einem Jahr praktisch beschlossene Sache – seitdem die CDU ihren langjährigen Widerstand noch im Wahlkampf aufgegeben hatte. Da war der Rest des Landes schon lange mehrheitlich für den Abschied von einem Experiment, das mehr als zwei Jahrzehnte zuvor im Saarland seinen Anfang nahm, in anderen Ländern erst nachgeahmt – und dann teilweise schon viel früher wieder korrigiert wurde.
Also endlich alles gut? Von wegen. Es geht schließlich um Bildungspolitik, dem Politikfeld, das breiten Raum gibt, sich über unterschiedliche gesellschaftspolitische Vorstellungen auseinanderzusetzen. Womit auch klar ist, dass in keiner Debatte der gegenseitige Vorwurf fehlen darf, nur ideologisch zu handeln. Folgt man den Debatten um Reformen, kann es einem das eine oder andere Mal so vorkommen, als stünde der Untergang kurz bevor. Wenn es um das Wohl und die Zukunft der Kinder geht – was ja allen so wichtig sei, wie jeder für sich reklamiert –, wird es eben schnell emotional, was durchaus nachvollziehbar ist. Und weil jeder so seine eigenen Vorstellungen hat, was denn nun „das Beste“ sei, geht es munter zur Sache.
So ist zwar G9 beschlossen, der Streit um die Umsetzung dauert jedoch an. Was auch damit zu tun hat, dass es im Zuge der Anhörungen viele Vorschläge und Begehrlichkeiten, Hinweise und Forderungen gegeben hat, die letztlich nicht zum Zuge kamen. Und weil bildungs- und schulpolitische Debatten eben nicht nur eine sachliche, sondern auch eine emotionale Ebene haben, ist es eben mit einer Entscheidung alleine nicht erledigt.
Viele hatten mit G9 die Chance gesehen, dass ihre jeweiligen, schon lange erhobenen Forderungen jetzt endlich Perspektive auf Umsetzung haben könnten. Nur war nicht erwartbar, dass die Quadratur des Kreises – mehr Zeit und gleichzeitig mehr Inhalt und vielleicht am besten noch zusätzliche Fächer – gelingen könnte.
In dem über die Jahrzehnte fein gesponnenen System wirkt sich zudem jede Reform an einer Stelle auch an anderen aus. Wenn es dann gleich eine erhebliche Reform wie G9 ist, stellt sich gleich eine Reihe von Folgefragen. Gibt es jetzt einen neuen Run auf das Gymnasium? Was heißt das für die Entwicklungen der Gemeinschaftsschulen? Wird es gar auf eine „Einheitsschule“ hinauslaufen, wie die Opposition argwöhnt? Vorläufige Anmeldezahlen deuten noch nicht darauf hin, dass jetzt alle Eltern ihre Kinder mit dem neuen Gymnasium beglücken wollen. In der Vergangenheit hat sich ein relativ stabiles Verhältnis zwischen den beiden Säulen gezeigt, etwas mehr Anmeldungen für Gemeinschaftsschule (54 Prozent), entsprechend etwas weniger beim alten G8-Gymnasium.
Insgesamt wäre dringend mehr Ruhe „im System“ mehr als nur hilfreich, angesichts der bekannten riesigen Herausforderungen. Also vom Lehrkräftemangel bis hin zum Zustand der Gebäude, von der Digitalisierung bis zu Sprachförderung und Integration.
Der Lehrermangel droht, dramatische Ausmaße anzunehmen. Im Saarland ist es noch nicht so wie in einigen anderen Ländern, wo es bereits jetzt nicht mehr gelingt, alle Planstellen zu besetzen. Das ändert aber nichts am chronischen Mangel in bestimmten Fächern, und daran, dass Ausfälle immer weniger kompensiert werden können. Ein Problem sind die Nachwirkungen eines lange Zeit verordneten Sparkurses, begründet mit demografischen Prognosen über einen Bevölkerungsrückgang. Der ist einerseits nicht in dem Maße eingetreten, wie es Experten vorausgesagt haben, und gleichzeitig hat keine Prognose erwarten lassen, in welchem Maß Zuwanderung Schulen vor Herausforderungen stellen würden.
Auch mit G9-Einführung bleiben viele Probleme
Lehrerausbildung ist keine Sache von ein paar Monaten, folglich wird an allen Ecken mit Maßnahmen wie Quereinsteigerprogrammen gearbeitet, um kurzfristig Entlastung zu schaffen. Eine wirkliche Lösung ist das nicht.
Schulen stehen zudem vor der Herausforderung, zusätzlich Kinder und Jugendliche aufnehmen und integrieren zu müssen. Bislang sind nach Angaben des Ministeriums alleine 2.800 Kinder aus der Ukraine in saarländischen Schulen – zusätzlich zu denen, die aus anderen Ländern zu uns gekommen sind. Die Bereitschaft und das Engagement waren und sind groß, die Situation hat sich aber verändert. Geflüchtete aus der Ukraine haben überwiegend den Wunsch, so schnell wie möglich in ihre Heimat zurückzukehren. Wie lange der Krieg aber dauert, ist nicht absehbar. Es geht um Sprachförderung – aber auch um Traumatisierungen und soziale Fragen sowie um eine sehr heterogene Gruppe von Kindern. Und was Sprachförderung betrifft, ist das – leider – eine Frage, die auch einheimische Kinder betrifft. Die Ablösung durch neue Konzepte hat die Sache zunächst einmal nicht unbedingt erleichtert. Der Wunsch nach Kontinuität und Verlässlichkeit von Programmen ist deutlich, gleichzeitig erfordern aber auch neue Entwicklungen unter Umständen andere Antworten.
Ein weiterer großer Umbruch ist die Digitalisierung. Dass die nicht mit der Ausgabe von Tablets und neuer Technik in den Klassen erledigt ist, unterschreibt jeder. Und dann beginnt auch hier die große Auseinandersetzung, was denn nun richtig und notwendig sei. Die Diskussion um Jugendschutz steht da ziemlich symbolisch für ein ganzes Bündel an Fragen: Was machen mit den neuen technischen Möglichkeiten? Möglichst viel und alles, was geht – halt so, wie es im Alltag jenseits der Schule ziemlich wilde Praxis ist? Wie ist das mit der viel beschworenen Medienkompetenz? Dahinterstehende Fragen sind eher im Expertenkreis als in der Öffentlichkeit ein Thema, wie die über Lernsoftware, die Rolle von Technologiekonzernen oder die Interessen von Fachleuten.
Es gibt reichlich Diskussionsstoff, gleichzeitig gehört Deutschland nun nicht gerade zu den Vorreitern in der digitalen Welt. Was auch daran liegt, dass hierzulande lieber alles gründlich überlegt sein will – insbesondere die Bedenken. Der Druck, der durch die Pandemie entstanden war, hat beschleunigt, was sonst vermutlich noch lange diskutiert worden wäre. Das gilt vor allem für die technische Seite. Bei den damit verbundenen inhaltlichen Entwicklungen, Veränderungen, Möglichkeiten ist noch reichlich Luft nach oben.
Und die gibt es auch an anderen Stellen bei der Entwicklung von Lernformaten. Neu ist der „Frei Day“ – zumindest im Saarland. Bislang gab es nur an einer Schule dieses neue Lernformat, nun werden 21 Pilotschulen mitmachen und sind damit Teil im Bundesnetzwerk „Schule im Aufbruch“.
Andreas Schleicher, OECD-Direktor des Direktorats für Bildung, sagt dazu: „Der ‚Frei Day‘ zeigt, wie man ein Schulsystem, in dem vieles nicht erlaubt, aber vieles auch nicht verboten ist, verwandeln kann. Die Idee ist verblüffend einfach: Wenn man Schülerinnen und Schülern ein wenig Zeit und Raum gibt, um herauszufinden wer sie sind, wer sie sein wollen, und was sie wirklich gut können, dann lernen sie schneller als im Klassenzimmer, sich und die Welt nachhaltig zu verändern.“