Knapp anderthalb Jahre ist die Ampelkoalition jetzt an der Regierung und es knirscht zwischen SPD, Grünen und der FDP gewaltig. Doch bei genauer Betrachtung hat SPD-Kanzler Scholz in 16 Monaten mehr bewegt als vor ihm CDU-Kanzlerin Merkel in 16 Jahren.
Eine Schlagzeile der Deutschen Presseagentur schreckte die deutsche Öffentlichkeit am letzten Montag im März, morgens um 5 Uhr, auf: „Im Kanzleramt brennt noch Licht!“ Ungeheuerliches schien dort vorzugehen, der Koalitionsausschuss tagte immer noch. Politische Berichterstatter in Berlin standen mit ihren Kameras und Mikrofonen in Rudeln vor dem Kanzleramt, eine veritable Regierungskrise wurde ausgemacht. Ältere Kollegen erinnerten daran, dass das unter Bundeskanzlerin Merkel öfters mal vorkam.
Das Bemerkenswerte an dem Umstand, dass im Kanzleramt morgens um fünf noch Licht brannte, war ein Paradigmenwechsel in der Arbeitsweise von Bundeskanzler Olaf Scholz. Dieser hatte schließlich nach der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags im Dezember 2021 versprochen, auf Nachtsitzungen zu verzichten. Doch nachdem der Streit zwischen seinen grünen und liberalen Koalitionspartnern in den letzten Wochen ausgeufert war, musste er nun doch auf das dramaturgische Element der Nachtsitzung zurückgreifen – und die Medien spielten dann auch ordentlich mit. Das Ergebnis: Eine breite Öffentlichkeit erfuhr im nachrichtlichen Halbstundentakt, dass die Ampel emsig arbeite und um die Umsetzung ihrer Inhalte ringe. Dass das Treffen der Koalitionäre dann wegen des fest verabredeten deutsch-niederländischen Regierungsgipfel nach zwanzig Stunden auch noch unterbrochen werden musste, um am nächsten Tag dann weitere zehn Stunden fortzufahren, verstärkte diesen Eindruck nur noch.
Aus Sicht des Kanzleramts eine perfekte Inszenierung, um die eigene Handlungsfähigkeit auch einer breiten Öffentlichkeit zu demonstrieren.
Bei genauer Betrachtung ist die postulierte „Fortschritts-Koalition“ allerdings eher mit dem Aufräumen von Versäumnissen ihrer vier Vorgängerregierungen unter Unionsführung – teils mit den jetzigen „Fortschrittskoalitionären“ SPD und FDP – beschäftigt.
Umstrittene Beschlüsse zu alten Themen
Der Fortschritt besteht zu großen Teilen erst einmal darin, nachzuholen – eine „Aufhol-Koalition“. Allein das Beispiel Elektromobilität zeigt, wieviel liegen geblieben ist. 2010 verkündete die damals selbst ernannte Klimakanzlerin, dass bereits bis 2020 eine Million Elektroautos über Deutschlands Straßen rollen sollten. Obendrauf sollten eine Million Ladesäulen für die nötige Energie sorgen. Beide Ziele wurden krachend verfehlt. Im Oktober letzten Jahres waren 840.000 Elektro-Autos in Deutschland zugelassen. Wobei davon 740.000 Plug-in-Hybrid-Pkw waren, also Fahrzeuge mit Verbrenner, bei denen auf Elektroantrieb umgeschaltet werden kann. Den größten Sprung bei den Zulassungen von E-Autos gab es im letzten Jahr, also unter Bundeskanzler Scholz. Die vor fast 13 Jahren verkündete E-Mobilitäts-Offensive nahm also erst zu Zeiten der Ampelregierung überhaupt wirklich Fahrt auf. Doch mit dem Beschluss der EU, ab 2035 fast ausnahmslos keine Verbrenner mehr zuzulassen, ist dieser Schritt nun tatsächlich unumkehrbar.
Aufholjagd der Ampelregierung ist auch in Sachen Landesverteidigung angesagt. Das stand so nicht im Koalitionsvertrag, den Krieg gegen die Ukraine konnte schließlich niemand vorhersehen. Doch innerhalb von zehn Tagen zog Bundeskanzler Scholz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine die einzig mögliche Konsequenz mit dem 100 Milliarden Euro Sondervermögen Bundeswehr. Auch wenn noch kaum ein Pfennig für die Wiederertüchtigung der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands geflossen ist, auch hier ist der Weg unumkehrbar und wird die deutsche Politik über Jahre bestimmen. Dass die Bundeswehr zu einer „Pfadfindertruppe mit Kettenfahrzeugen“ – so der verteidigungspolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion Florian Hahn gegenüber FORUM – runtergewirtschaftet wurde, daran hat nicht nur die Union schuld, daran haben auch SPD, Grüne und die FDP mitgewirkt. Und das seit 40 Jahren. Wenn heute immer wieder von verschiedenen Verteidigungsexperten der Bundestagsparteien zu hören ist, die Bundeswehr müsste in ihren früheren Zustand versetzt werden, können eigentlich nur die 60er- und 70er-Jahre gemeint sein. Nach dem Zusammenbruch der DDR brachte es der ehemalige Generaloberst der Nationalen Volksarmee und Oberkommandant des Warschauer Paktes, Fritz Streletz, auf den Punkt: „Nur gut, dass in den 80er-Jahren in den Reihen der Befehlshaber der Warschauer Vertragsstaaten niemand ahnte, in welch desolatem Zustand die bewaffneten Organe der BRD sind, da wäre der ein oder andere noch auf blöde Ideen gekommen.“ Auf Deutsch: Bei der Bundeswehr wurde schon vor dem Ende des Kalten Krieges gespart.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der verschwundenen Bedrohung aus dem Osten wurde die Landesverteidigung auf ein absolutes Mindestmaß heruntergefahren. Ergebnis: Im Falle eines Angriffes wäre die Munition heute innerhalb von 24 Stunden aufgebraucht! Nun die abrupte Kehrtwende durch die Ampelregierung, wobei die Wiederherstellung der vollen Verteidigungsfähigkeit der BRD mindestens ein Jahrzehnt dauern und weit mehr als die 100 Milliarden Euro Sondervermögen kosten wird. Aber auch dies ein unumkehrbarer Weg.
Kaum wirkliche Fortschritte
Auch das jetzt beschlossene Programm zur Abkehr von fossilen Heizungen in Wohngebäuden ist ein Schritt, den eine „Klimakanzlerin“ längst hätte einleiten können, wenn Angela Merkel denn gewollt hätte. Zwar wurde die Einhaltung der Pariser Klimaziele immer wieder gebetsmühlenartig betont, nur gesetzgeberisch ist nicht allzu viel passiert. Was aber nicht nur der Kanzlerin vorzuhalten ist. Schließlich gab es in der damals regiernden Großen Koalition auch noch die SPD.
Doch nun der Startschuss für die Dekarbonisierung der Heizungsanlagen, wenn auch in abgeschwächterer Form als ursprünglich von Grünen-Klimaminister Habeck vorgesehen. Zwar soll weiterhin ab 2024 jede neu eingebaute Heizung zu 65 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben werden, es wird allerdings etliche Ausnahmen und langjährige Übergangsfristen geben. Aber auch dieser Schritt ist im Grunde nicht mehr umkehrbar.
Die drei Beispiele zeigen: Was die Ampel nun voranbringt, sind Projekte, die schon lange auf der politischen Agenda standen, doch nie ernsthaft angegangen wurden. Das gilt ebenso für die nun beschlossenen Infrastrukturmaßnahmen bei der Bahn, den Autobahnbrücken oder der Digitalisierung. Was 16 Jahre lang unter der Regentschaft Angela Merkels (CDU) nicht abgeräumt wurde, hat nun ihr Nachfolger Olaf Scholz (SPD) zumindest angepackt. Noch kein wirklicher Fortschritt, aber zumindest ein Aufholen des Versäumten.